Wie RNA-Viren die gemeinsame Abstammung von
Mensch und anderen Primaten belegen
Wenn
wir in der Zeit 10 Millionen Jahre zurückreisen
könnten und dort einige Primaten mit Markierungen an
verschiedenen Stellen der DNA versehen würden und diese
Markierungen heute bei Menschen und Schimpansen wiederfinden
würden, dann wäre die gemeinsame Abstammung bewiesen.
Zeitreisen sind nicht möglich, aber freundlicherweise haben
Viren die Markierungen für uns angebracht.
In diesem Beitrag möchte
ich erklären, wie endogene Retroviren die Evolution beweisen
oder genauer, die gemeinsame Abstammung von Menschen und anderen Affen.
Am besten erkläre ich erstmal, was ein endogenes Retrovirus
ist, oder noch besser, was ein Virus ist. Ich muss wohl damit anfangen,
zu erklären, was eine Zelle tut.
Einführung:
Retroviren und Evolution
In jeder Zelle des menschlichen
(oder sonst eines) Körpers ist das gesamte Erbgut in den
Chromosomen enthalten. Jeder hat bestimmt schon mal davon
gehört, dass die DNA dort als Kettenmolekül in Form
einer Doppelhelix vorliegt. Die Zelle braucht davon aber nur winzige
Abschnitte, nämlich einzelne Gene. Woher die Zelle
weiß, welches Gen aus dem langen Strang sie ablesen soll, ist
eine interessante Frage und zum Glück für die
Argumentation völlig unerheblich.
Die Aufgabe der Zelle ist es, aus
den Genen, für die sie zuständig ist, Proteine
herzustellen. Das kann so ziemlich alles sein, von Zahnschmelz
über Haare bis zu Enzymen. Dazu macht sie von einem
DNA-Abschnitt erstmal eine RNA-Kopie: die "messenger RNA" oder mRNA. Je
drei Buchstaben der mRNA werden dann vom Ribosom in
Aminosäuren umgesetzt. Die Aminosäuren werden
aneinandergehängt, und die fertige Kette ist dann ein Protein
(Abb.1).
Abb. 1:
Einzelne Abschnitte (Gene) auf der DNA werden beim Ablesen in einen
komplementären mRNA-Strang umgeschrieben. Jeweils drei
"Buchstaben" der mRNA codieren für eine bestimmte
Aminosäure, die zu einem Protein verknüpft werden.
Viren gelten nicht als Lebewesen,
weil sie für ihre Vermehrung auf Wirtszellen angewiesen sind.
Es gibt Viren, die ihre eigene RNA mitbringen und der Zelle als mRNA
unterschieben, die dann direkt in Viren-Proteine umgesetzt wird.
DNA-Viren lassen ihr Erbgut vorher erstmal von der Zelle in mRNA
übersetzen. Die Retroviren setzen noch früher an. Sie
enthalten RNA, die von ihrer reversen Transkriptase in DNA umgewandelt
und in ein Chromosom der Wirtszelle eingefügt wird. Dieser
Schritt verläuft verglichen mit der normalen Verarbeitung
rückwärts, daher "Retro"-viren.
Das Aids-Virus HIV ist zum
Beispiel ein Retrovirus. Es befällt T-Helferzellen, die
für die Immunabwehr wichtig sind. Wenn ein Retrovirus
stattdessen Keimzellen befällt und dabei weder die Zelle noch
das Wirtstier tötet, kann es passieren, dass die
eingefügte virale DNA weitervererbt wird. Man spricht dann von
einem "endogenen Retrovirus". Die eingefügte DNA wird
"Provirus" genannt, und sie kann bei den Nachkommen des
ursprünglich befallenen Tieres zu Viruspartikeln umgesetzt
werden. Die Viruspartikel mit Hülle und allem drum und dran
nennt man auch "Virion".
So ein endogenes Retrovirus ist
nach der Infektion erstmal nur bei einem Individuum
vorhanden, und wenn es sich irgendwie schädlich bemerkbar
macht, verschwindet es bald wieder durch natürliche Selektion.
Wenn es keinen Schaden anrichtet, kann es sich durch genetische Drift
in der ganzen Population verbreiten und schließlich fixiert
werden. "Fixiert" heißt, dass dann alle Tiere einer Art
dieses Provirus in ihrer DNA haben. Es kann auch mehrere hunderttausend
Jahre als Allel existieren. Das heißt, dass DNA-Varianten mit
und ohne Virus in der Tierart gleichzeitig vorkommen.
Ein Retrovirus hat mindestens die
drei Gene gag, pol und env.
pol kodiert unter anderem die reverse
Transkriptase, und env kodiert die Hülle
(Abb. 2). Das Provirus ist an beiden Enden von LTRs begrenzt. LTR steht
für "long terminal repeat". Die beiden LTRs sind zum
Einfügezeitpunkt identisch aufgebaut, und das in
Ableserichtung vordere von ihnen dient als Starter. Es soll also die
Zelle dazu bewegen, die Gene abzulesen.
Abb. 2: In
die Wirts-DNA eingefügtes Provirus mit den Genen gag,
pol und env.
Die Einfügestelle eines
Retrovirus in die DNA ist weitgehend zufällig. Es gibt zwar
Viren, die genreiche Regionen bevorzugen, aber bei drei Milliarden
Basenpaaren - so groß ist die DNA des Menschen - bleiben
immer noch Millionen von möglichen Einfügestellen zur
Auswahl (Abb. 3). Wenn man Proviren bei verschiedenen Tierarten an
einander entsprechenden Stellen findet, kann man also davon ausgehen,
dass mal ein Vorfahre beider Arten vom Virus infiziert wurde.
Abb. 3: Die
blauen Lollis in diesem Bild stehen für
HIV-Einfügestellen. Quelle: Mitchell et al. (2004)
Der
Evolutionsbeweis
Die DNA des Menschen besteht zu
etwa 8% aus endogenen Retroviren beziehungsweise ihren
Überresten. Oft ist nur noch ein LTR übrig. Finlay
(2006) spricht von 400.000 Einfügestellen.
Vor vier Jahren untersuchten Polavarapu
et al. (2006) 425 vollständige Retroviren des
Schimpansen und fanden 384 davon auch beim Menschen an
übereinstimmenden Stellen.
Bei Menschen und Gorillas gibt es
weniger Übereinstimmungen und bei Menschen und
Rhesusäffchen noch weniger. Wenn man aus der Verteilung von
endogenen Retroviren über die Affenarten einen Stammbaum
konstruiert, dann entspricht er dem Stammbaum, den man auch aus anderen
Merkmalen abgeleitet hat. (Zum Thema "endogene Retroviren als
Evolutionsbeleg" s. Theobald 2004).
Johnson/Coffin (1999)
machten es etwas anders und nahmen nur die Proviren, die bei allen
untersuchten Affen an der gleichen Position zu finden waren, und
betrachteten dort die Mutationen an den LTRs. Weil beide LTRs
zunächst identisch sind, konnten allzu starke
Beschädigungen erkannt und in der Statistik als
Ausreißer berücksichtigt werden. Aus den mit der
Zeit angesammelten und weitervererbten Punktmutationen der LTRs
erhielten Johnson und Coffin für jedes einzelne Provirus, das
nicht allzu schwere Beschädigungen aufwies, wieder den schon
bekannten Stammbaum der Primaten (s. auch Hughes/Coffin
2005; Abb. 4).
Abb. 4:
Ermittlung der Verwandtschaftsbeziehungen von Primaten anhand
verschiedener Proviren. Aus: Johnson/Coffin (1999).
Was
sagen die Kreationisten dazu?
Die typische Reaktion ist erstmal
zu sagen, dass diese angeblichen Viren in Wahrheit nützliche
Bestandteile der ursprünglichen DNA seien. Dazu weisen sie
gerne auf die seltenen Fälle hin, in denen ein Gen (und
niemals ein ganzes Provirus) eine nützliche Funktion
erfüllt. Zum Beispiel wird das Einnisten der Eizelle in die
Gebärmutter von einem viralen Gen begünstigt, das die
Abstoßung verhindert, was ja für Viren und Eizellen
gleichermaßen günstig ist. In anderen
Fällen haben LTRs die ursprünglichen Starter von
Genen ersetzt. Es sind also ganz selten einzelne Bestandteile von
endogenen Retroviren nützlich und niemals das ganze Provirus.
Wenn ein ganzes Provirus aktiv ist, dann entstehen tausende von
Viruspartikeln, und die Sache kann unangenehm werden.
Neue Einfügungen von
endogenen Retroviren, die heute zwar nicht bei Menschen, aber zum
Beispiel bei Katzen und Schafen vorkommen, sehen genauso aus wie die
alten, aus denen man die Stammbäume ablesen kann, inklusive
der so genannten "target site duplications". Es gibt also keine
ernsthaften Zweifel, dass die Proviren wirklich von Infektionen
herrühren.
Es ist sogar gelungen, aus
mehreren Proviren des Menschen eine Retrovirus-Sequenz zu
rekonstruieren, die in der Lage war, wieder Viruspartikel zu bilden.
Die Forschergruppe um Marie Dewannieux nannte dieses Virus "Phoenix" (Dewannieux
et al. 2006).
Der andere Einwand, dass die
Einfügestellen nicht zufällig seien, wurde vorhin
schon behandelt. Es gibt zwar Vorlieben bestimmter Viren für
bestimmte Regionen, aber die erklären keine basenpaargenaue
Übereinstimmung. Es wäre außerdem absurd zu
glauben, dass die endogenen Retroviren vor Millionen von Jahren immer
genau trafen, aber heute nicht mehr. Wenn die Retroviren so gut zielen
könnten, warum finden wir sie dann überhaupt an
Hunderten von Stellen, aber an diesen Stellen in mehreren Arten, genau
dem Stammbaum entsprechend?
Und wieso finden wir nie eine
Einfügestelle so verteilt, dass sie dem Stammbaum
widerspricht? Etwa, weil die "Evolutionisten" solche Fälle
geheim halten? Nein, ein Provirus, das bei Gorillas, Bonobos und
Schimpansen vorhanden ist, aber nicht bei Menschen, wurde in den
wissenschaftlichen Zeitschriften analysiert (Barbulescu et al.
2001). Die Erklärung ist, dass das Provirus
bei der Abspaltung des Gorillas und auch bei der Trennung von Mensch
und Schimpanse noch als Allel vorhanden war und aus der menschlichen
Linie verschwand, aber bei den anderen Arten fixiert wurde (Abb. 5).
Abb. 5.: Die
Einfügung eines Provirus beim gemeinsamen Vorfahren von
Mensch, Schimpanse und Gorilla. Das als Allel vorhandene Provirus
verschwand aus der menschlichen Linie, während es bei den
anderen Arten fixiert wurde.
Und wie wollen die Kreationisten
erklären, dass sogar die Auswertung der Mutationen an den LTRs
immer wieder den bekannten Primaten-Stammbaum ergibt?
Vernünftige Erklärungen für die Verteilung
der endogenen Retroviren über die Arten habe ich von
Kreationisten noch nicht gehört.
Literatur
Barbulescu,
M. et al. (2001) A HERV-K provirus in chimpanzees, bonobos and
gorillas, but not humans. Current Biology 11(10), 779-783.
http://tinyurl.com/2ugvd86
Dewannieux,
M. et al. (2006) Identification of an infectious progenitor for the
multiple-copy HERV-K human endogenous retroelements. Genome Res.
16(12), 1548-1556.
www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1665638/?tool=pubmed
Finlay, G.
(2006) Human genetics and the image of god.
www.st-edmunds.cam.ac.uk/faraday/CIS/Finlay/lecture.htm
Hughes, J.F./Coffin,
J.M. (2005) Human Endogenous Retroviral Elements as Indicators of
Ectopic Recombination Events in the Primate Genome. Genetics 171(3),
1183-1194. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1456821/
Johnson, W.E./Coffin,
J.M. (1999) Constructing primate phylogenies from ancient retrovirus
sequences. PNAS 96(18), 10254-10260.
www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC17875/
Mitchell,
R.S. et al. (2004) Retroviral DNA integration: ASLV, HIV, and MLV show
distinct target site preferences. PloS Biology 2(8), e234.
Polavarapu,
N. et al. (2006) Identification, characterization and comparative
genomics of chimpanzee endogenous retroviruses. Genome Biol. 7(6), R51.
www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1779541/
Theobald, D.
(2004) 29+ evidences for macroevolution. Part 4: the molecular sequence
evidence. In: TalkOrigin,
www.talkorigins.org/faqs/comdesc/section4.html#retroviruses