Buchbesprechung
G.A.
und R.A. Falkner: Die Selbstgestaltung der
Lebewesen in Erfahrungsakten
Schriftenreihe
Biophilosophie, Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2020, ISBN:
9783495491089, Preis: 34,00 €
Mit diesem Buch wollen die
FALKNERs eine neue Definition des Lebens und eine neue Theorie der
Biologie, einschließlich der Evolution, unterbreiten. Damit
stecken sich die Autoren ein
hohes Ziel. Die erste Überraschung in Gestalt eines Zitats des
Mathematikers und Philosophen Alfred North WHITEHEAD,
1861–1947 (!), erwartet den Leser bereits im
Klappentext:
"Eine
durchgängige Evolutionsphilosophie ist unvereinbar mit
Materialismus ... Evolution wird nach der materialistischen
Theorie auf ein anderes Wort für die Beschreibung von
Veränderungen in den äußeren Relationen
zwischen Materieteilchen reduziert. Hier gibt es nichts, was der
Evolution fähig wäre, weil eine Menge von
äußeren Relationen so gut wie jede andere ist.
Möglich ist allein eine nicht zweckgerichtete und nicht
fortschreitende Veränderung. ..."
Dieses Bekenntnis offenbart ein erschreckendes Unverständnis
für Evolution, selbst für die damalige Zeit. Die
zweite Überraschung bietet das Literaturverzeichnis, in dem
dutzendfach (vor allem idealistische) Philosophen, bis hin zu
PLATON und HEGEL, auftauchen sowie seit Jahrzehnten veralte biologische
Publikationen bis hin zu E. HAECKEL aus den Jahr 1929. Aktuelle
wissenschaftliche Veröffentlichungen sind
Mangelware, bis auf einige Publikationen der Autoren selbst.
Die dritte Überraschung ist die durchgängig falsche
oder zumindest irre führende Verwendung von Fachbegriffen:
Hier und da (z. B. auf S. 173) wird Gen
mit Allel
verwechselt. Die Molekularbiologie ist mitnichten "aus einer
Kombination der Mendelschen Genetik mit der Theorie DARWINs ...
hervorgegangen" (S. 179). Biologie folgt keinem "mechanistischen
Denkschema" (quer durchs Buch, zuerst S. 11) und ist auch nicht
"physikalistisch" (S. 23 u. a.), sondern kausalanalytisch
wie jede naturwissenschaftliche Disziplin. Die aktuelle
Evolutionstheorie ist nicht
"neodarwinistisch" (S. 11 u. a.), die Erklärungsschemata der
Biologie sind nicht "positivistisch" (S. 23 u. a.).
Tatsächlich arbeitet
die
Biologie sowohl nach der empirisch-induktiven als auch nach
der hypothetisch-deduktiven Methodologie, die in allen
Naturwissenschaften Anwendung findet. Wesen, Struktur und Logik der
Naturwissenschaften werden auf bestürzende Weise ignoriert; so
als hätte es seit J. O. DE LAT METTRIE und seinem
Werk L’Homme-Machine
(1748) keinen Erkenntnisfortschritt gegeben.
Was hat das Buch als Alternativen zur "Standard-Biologie" zu bieten?
Die Autoren haben nach eigener Sicht
"...
die energetischen Grundlagen der physiologischen Anpassung mit Hilfe
der irreversiblen Thermodynamik studiert. [Sie] fanden, dass dieser
Prozess ausgelöst wird, wenn eine Milieuänderung die
Funktionsharmonie eines Fließgleichgewichts des Stoffwechsels
beeinträchtigt. Im Fließgleichgewicht wird die
jeweils vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet, und die
im Stoffwechsel erzeugten Strukturelemente der Zelle
gewährleisten die Aufrechterhaltung der Erscheinungsform des
Organismus. Eine Störung des Fließgleichgewichts
verursacht daher eine Deformation der Erscheinungsform" (S.12).
Soso, aha! Mal abgesehen von der gestelzten Sprache: Die Energiebilanz
der
natürlichen Photosynthese von ca. 20% ist also "optimal"? Und
der massenhafte Fehleinbau von O2 statt CO2 durch die RUBISCO im Rahmen
der Photorespiration wird ebenfalls als optimal eingestuft?
Die FALKNERs wollen den geistigen
[sic!] Aspekt des
Lebendigen im
Stoffwechsel auffinden (S.13), sie sehen
"Selbstgestaltungsakte" des
Lebendigen am Werk, geleitet durch ein "Zellgedächtnis" und
ein "Artgedächtnis" (quer durchs Buch, zuerst S.14/15), sowie
"intra- und interorganismische Spannungsfelder" (zuerst auf S. 30), was
eine "öko-physiologische Behandlung der gegenseitigen
Beeinflussung der biozönotischen und organismischen
Spannungen" erlaube. Wie kommen die Autoren zu solchen Ideen?
Ausgangspunkt sind ihre Untersuchungen am Phosphat-Stoffwechsels von
Cyanobakterien, den sie in Kapitel 3 vorstellen. Kurz gesagt stellten
die Autoren fest, dass die unmittelbare Vorgeschichte einer
Cyanobakterien-Kultur, also die Phosphat-Konzentrationen der letzten
Tage, Einfluss auf den aktuellen Phosphat-Stoffwechsel haben. Nicht
überraschend, ist doch längst kausalanalytisch
aufgeklärt, über welche Mechanismen (gemeint sind kausale Wirkungsketten)
sich Lebewesen und ihre Physiologie im Rahmen ihrer genetisch
festgelegten Möglichkeiten auf die jeweils aktuellen
Gegebenheiten einstellen. Zwar legen die Autoren ausführlich
Kinetiken dar, versäumen aber das Wesentliche: Wenn man
physiologischen Anpassungsvorgängen auf den Grund gehen will,
muss man Änderungen im Transkriptom, im Proteom, in
Protein-Modifikationen und ggf. im Metabolom untersuchen. Das haben die
Autoren jedoch nicht einmal ansatzweise versucht. Honi soit qui mal y pense.
Um nur einmal kurz anzureißen, was in der Biologie wirklich
gedacht wird: Organismen sind autopoietische (aktiv-autoreproduktive)
Systeme, deren Entwicklung, Selbsterhaltung und Adaptivität in
Modellen dargestellt und untersucht werden können: Es gibt
Theorien, welche der Selbstorganisation komplexer Systeme beschreiben
usw. Die Autoren ignorieren diese Theorieentwicklung, oder sie kennen
sie gar nicht; stattdessen weichen sie auf
außerwissenschaftliche Vorstellungen aus, die man nicht
nachvollziehen kann. Und so erfahren wir staunend (quer durchs Buch,
zuerst auf S. 23), dass
die Ursache für einen biologischen
Prozess in der Zukunft liegen kann: Die Ursache
für den
gestern abgelaufenen biologischen Prozess kann also ein morgiges
Ereignis sein. Dies gelte auch
für die Veränderung
der Genexpression, deren Wirkung ja auch in der Zukunft läge (S.
23). Man kommt aus der Sprachlosigkeit nicht mehr heraus; am
Beispiel das Lac-Operons ist es bereits Abiturwissen Bio-LK, warum dies
nicht so ist, und warum hier "Standard-Kausalität" gilt.
Laut den FALKNERs beruhe auch
die Embryogenese nicht auf
"Entwicklungsprogrammen" (gemeint sind
wohl die ontogenetischen Prozesse, welche die Embryogenese
steuern).
Sie erklären dies stattdessen "mit der Beziehung zwischen
Erfahrung und
Selbstkonstitution in den verschiedenen Etappen der der organismischen
Entwicklung unter Einbeziehung der logischen Entfaltung von
Funktionsharmonien". Unter anderem, weil "die lineare
Anordnung
von Nukleotiden auf der DNS" nicht die "dreidimensionale Gestalt
eines Lebewesens" hervorbringen könne (S. 37, auch S.180/81).
Wenn das
unmöglich ist, dann müsste es auch unmöglich
sein, zwei- und dreidimensionale
Objekte in Dateien mit linearen Bitabfolgen zu kodieren.
Die
ontogenetischen Selbstorganisations-Prozesse
sind mittlerweile gut verstanden (wenngleich eine vollständige
Beschreibung bis
in die letzten Details noch lange nicht erreicht ist). Klar ist aber
längst,
dass hier keine ominösen, metaphysisch-idealistischen
"Entfaltung von
Funktionsharmonien" am Werke sind. All diese Prozesse lassen sich
streng
mechanismisch (i.S.v. kausalanalytisch) beschreiben, und auch deren
Entstehung
lässt sich zumindest prinzipiell evolutiv erklären.
Nun
behaupten die Autoren, schon die ersten
Lebewesen seien "in einer
Wiederholung
der kosmischen Selbstkonstitutionsakten" entstanden (S. 39); dies seien
"auf ein Endziel gerichtete Prozesse" gewesen (S. 40). Dies lasse sich
"nicht
mechanistisch beschreiben,
weil auch hier ein zukünftiger Zustand die Ursache
für die Ausrichtung
vorheriger Prozesse" sei. Das ist ein grobes Missverständnis:
Ein
bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Prozess hat sich evolutiv
durchgesetzt,
weil es bzw. er seinem Besitzer einen Vorteil brachte, und nicht,
weil
ein Ereignis, das später eintritt, gleichsam
rückwärts in die Vergangenheit hineinwirkte
bzw. durch das frühere Ereignis vorweggenommen würde.
Auf Seite 41
behaupten die FALKNERs, für
die "irreversible Natur biologischer Prozesse" gebe
es
ebenfalls "keine mechanistische Erklärung" (S. 41). Das
stimmt, denn dies erklärt sich –
völlig befriedigend – thermodynamisch und
nicht mechanisch oder mechanistisch: Das ist Biologie-Wissen
höherer Semester.
Kapitel 2 beginnt mit der Behauptung, die molekularbiologische Methodik
habe
den Begriff des Lebens aus der Biologie eliminiert – da muss
ich mich als
Molekularbiologe offenbar fragen, was ich denn wohl in Wahrheit tue und
womit
ich mich tatsächlich befasse...
Man kann all diese Behauptung eigentlich nur so verstehen, dass die
Autoren von vornherein "Leben" nicht als eine Eigenschaftsbeschreibung
bestimmter natürlicher Prozesse verstehen (und somit nicht als
empirisch-wissenschaftlich erfassbaren Begriff), sondern als eine
eigene, immaterielle Substanz im philosophischen Sinn. Die gibt es in
der Tat in der
Naturwissenschaft nicht und kann es auch nicht geben –
jedenfalls
nicht in dieser Welt, in der wir leben.
Wenn die Autoren dann behaupten, in organismischen Systemen
bestehe eine innere Beziehung zwischen physiologischen
Teilprozessen, die mit biochemischen und biophysikalischen Methoden
nicht erkannt werden können (S. 50), stattdessen gebe es in
der
Physiologie ein "ideelles Regulativ" (S.58), verlassen sie
endgültig die Biologie bzw. die Naturwissenschaften. Und sucht
man
klare, eindeutige Definitionen für die Unmenge an
metaphorischen
Begriffen, die im Buch verwendet werden, so sucht man vergebens. Das
alles ist keine Naturwissenschaft, es ist Vitalismus und Esoterik in
Reinform. Interessant ist auch die Nähe zur Postmoderne;
hierzu
kann man das Buch "Eleganter Unsinn" von Alan SOKAL und
Jean BRICMONT empfehlen: Die Parallelen sind frappant. [1]
Beim Thema Evolution setzt sich der fragwürdige Diskurs
nahtlos fort: Organismen "bewerten" aktiv ihre Umgebung (S.157ff),
verfolgen dabei eigene "Intentionen" (S.158ff), und zwar "freiwillig"
und "reflektiert" (S.158). Klartext: Arten evolvieren, weil
sie es wollen und gezielt kreativ planen. Die Autoren geben sich
größte Mühe, in Bildern und metaphorischer
Sprache aufzuzeigen, dass die Standard-Evolutionstheorie eine
"Höherentwicklung" der Organismen nicht
erklären könne. Doch die
Grundzüge finden sich bereits in The Emergence of
Evolutionary Novelties (Ernst MAYR, 1959), heutzutage
ausformuliert im Theoriengebäude der EvoDevo. All dies
erwähnen die FALKNERs mit keiner Silbe. Das angeblich ungelöste
Rätsel, warum die Mendelsche Genetik die
Vererbung artspezifischer Erscheinungsform nicht
erklären könne, liegt schlichtweg und
unspektakulär daran, dass sie
über 150 Jahre alt ist. Auch der Vergleich des "genetischen
Programms" mit technischer
Informationsübertragung ist verfehlt, weil offenbar nicht
begriffen wird, dass sich einige Aspekte vergleichen und
übertragen lassen, aber eben nicht alle.
Wenn man Kreationismus
definiert als "Ablehnung einer natürlich erklärbaren
Evolution zugunsten von
supra-/paranormalen, mit empirischer Wissenschaft nicht fassbaren
Wirkfaktoren", so handelt es sich hier nicht nur um
esoterisches Gedankengut, sondern um Ideen, die ebenso nahe am
Kreationismus liegen wie Intelligent Design. Genau darum
dürfte dieses Buch in einem philosophischen Verlag
herausgekommen sein und nicht als Fachbuch: Es hätte das
Fachlektorat nicht überstanden. (Wer diese
Einschätzung für überzogen hält,
kann sich unter https://www.youtube.com/watch?v=rK7XB1oRouM
ein eigenes Bild machen.)
Der sperrig-aufgeblähte, mit schlecht oder gar nicht
definierten Worthülsen angefüllte und daher nur sehr
schwer verständliche Sprachstil durchzieht den
größten Teil des Buchs. Daher wird der Schaden bzw.
die Verwirrung, den es anrichten wird, gering bleiben. Allerdings ist
zu erwarten, dass es als Zitate-Steinbruch von Esoterikern und
Kreationisten (i.e.S.) ausgeschlachtet werden wird.
P.S.: Ein Proponent der FALKNERschen Ideen argumentierte mir
gegenüber, dem Autor sei ja schließlich für
dieses sein Werk von der Französischen Akademie der
Wissenschaften der Prix
Montyon verliehen worden. Dies ist inkorrekt.
Dieser Preis (der im Übrigen auf der Seite der Akademie nicht
mehr aufzufinden ist) wurde G.G. FALKNER verliehen – wie mir
auf Nachfrage mitgeteilt wurde – für seine
Untersuchungen zur Phosphatspeicherung und -metabolisierung in
Cyanobakterien.
_______________________
Fußnoten
[1] SOKAL, A & BRICMONT, J. (1999) Eleganter Unsinn. Wie die
Denker der Postmoderne
die Wissenschaften mißbrauchen. Beck, München,
ISBN 3-406-45274-4.
Rezension:
https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-eleganter-unsinn/573197
Autor:
Andreas Beyer
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
08.06.2020