Hintergrund
Der Fall
Danuvius guggenmosi
Muss
die Menschheitsgeschichte umgeschrieben werden?
Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es sind die Meldungen
über den Sensationsfund des Jahres. Der Münchner
Merkur tönt: "Fund in Bayern stellt Evolutionstheorie auf den
Kopf". Der Spiegel schreibt: "Die Funde [stellen] die bisherige
Sichtweise auf die Evolution der großen Menschenaffen und des
Menschen grundlegend in Frage. Dass sich der Prozess des aufrechten
Gangs in Europa vollzog, erschüttert die Grundfeste der
Paläoanthropologie."
In den letzten Tagen konnte ich mich als Biologe, der von
Paläontologie und Evolutionsgeschichte fasziniert ist, kaum
vor den Kommentaren der mir begegnenden Laien retten: "Hast du schon
von dem neuen Fund im Allgäu gehört?"; "Die ganze
Menschheitsgeschichte muss neu geschrieben werden"; "Alles was wir
über die Wiege der Menschheit in Afrika gelernt haben ist
falsch". Und weil ich bisher keine befriedigenden Antworten zur Hand
hatte, blieb mir nichts übrig, als ein paar Stunden zu
recherchieren und die Faktenlage zu
rekonstruieren.
Was ist also
passiert?
Fangen wir damit an, was der allgemeine
Wissensstand bis Ende Oktober 2019 war. Unter Fachleuten war und ist es
Konsensus, dass im Zeitraum von ca. 15 Mio. bis 7 Mio. Jahren vor unserer
Zeit die Menschenaffen überall in Afrika, Asien und Europa
verbreitet und weitaus artenreicher als heute waren. Danach
verschwanden sie (vor allem durch Klimaveränderungen bedingt)
vollständig aus Europa und bis auf die Vorfahren der
Orang-Utans auch aus Asien. Es
blieben die Populationen in Afrika, von
deren Nachkommenschaft letztendlich die Gorillas, die Schimpansen
(inklusive Bonobos) und die Menschen bis heute fortbestehen.
Nach der
endgültigen Trennung der menschlichen Vorfahren von den
Schimpansen vor vermutlich rund 6 Mio. Jahren
gab es mindestens zwei
Ausbreitungsbewegungen der Gattung Homo von Afrika nach Eurasien. Zunächst war es der Homo erectus vor rund 2 Mio.
Jahren, später
der Homo sapiens, welcher vor rund
300.000 Jahren in Afrika evolvierte. Vor ca. 200.000 Jahren begann dessen Ausbreitung nach Eurasien, welche in großem
Umfang aber erst viel später (vor etwa 70.000-50.000 Jahren)
stattfand. (Versiertere
Paläontologen mögen mir
bitte 10% Toleranz bei allen oben genannten Zeitangaben zugestehen, da
ich in der kurzen Zeit nur eine Stichprobe der verfügbaren
Literatur durchsehen konnte.)
Und was wurde
Anfang November öffentlich?
Eine Tübinger Forschungsgruppe fand im Allgäu einen
Menschenaffen, der vor 11,62 Mio. Jahren dort lebte und
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, im Gegensatz zu Gorilla
und Schimpanse, auf zwei Beinen gehen konnte. Nicht
mehr und nicht
weniger. Müssen wir daher alles verwerfen, was
die Wissenschaft in den letzten 200 Jahren an Wissen produziert
hat? Kauern die
Paläoanthropologen der Welt weinend und in Embryonalhaltung
unter ihren Schreibtischen und stellen ihr ganzes Leben in Frage? Wohl
eher nicht. Ich gehe davon aus, dass die Fachleute ähnlich auf
die Neuigkeit von Danuvius
guggenmosi reagiert haben wie ich als
interessierter Amateur: mit einem Heben der Braue, einem kleinen
Lächeln und dem Gedanken: "Spannender Fund, mal schauen, was
sich da noch ergibt".
Denn was genau ändert Danuvius
an dem, was wir noch vor vier
Wochen zu wissen glaubten? Genau genommen... nichts.
Bereits vor rund zehn Jahren legten mehrere anatomische Studien
nahe, dass Gorilla und Schimpanse den vierbeinigen
Knöchelgang unabhängig voneinander entwickelt haben
und eine Kombination aus klettern und zweibeinigem Gang die
ursprüngliche Fortbewegungsweise der Menschenaffen sein
dürfte. Genau
für diese Hypothese haben wir mit
Danuvius
jetzt einen Beleg. Es ändert sich nichts an der Evolutionstheorie, es
ändert sich nichts an der Out-of-Africa-Hypothese, die
Grundfesten der Paläoanthropologie stehen weiterhin stabil.
Was wir hier erleben ist keine Erschütterung der
Forschungsgemeinschaft. Ein toller und aufschlussreicher Fund zwar -
keine Frage, aber mit Sicherheit kein Grund zur Hysterie. Was wir hier
erleben ist ein ganz gewöhnliches Phänomen der
Mediengesellschaft und ihrer Wechselwirkung mit der Wissenschaft. Wer
als Forscher finanziert werden will, hat es heute mehr als je zuvor
nötig, sich öffentlich zu profilieren, und genau dies
macht Madelaine Böhme gerade sehr erfolgreich mit ihrer
Veröffentlichung von Danuvius.
Die Medien greifen diese
Aufblähung der Fakten dankend auf und treiben das Spielchen
zum Zwecke der Lesergenerierung weiter, hin zur reißerischen
Sensationsmeldung fernab wissenschaftlicher Sachlichkeit.
Problematisch
dabei ist für mich vor allem, dass solche Artikel ein Bild von
der Naturwissenschaft als willkürliche Spökenkiekerei
zeichnen und von ihren Theorien als labile Konstrukte, die durch eine Handvoll Knochen
zum Einsturz gebracht werden kann. Schon stehen die in unserem
postfaktischen Zeitalter erneut aufblühenden Kreationisten und
Parawissenschaftler in den Startlöchern, sehen sich durch die
Zeitungen bestätigt und versuchen den neuen Fund als Indiz
für ihre kruden Thesen heranzuziehen. Liebe Journalisten, da
habt Ihr der Paläontologie in eurer Sensationsgeilheit
wahrlich einen Bärendienst erwiesen. Da lobe ich mir hingegen
den unaufgeregten Kommentar von Patrick Illinger in der SZ mit der
einleitenden Zeile: "Einzelne Knochenfunde, wie jüngst im
Allgäu, reichen nicht, um die Geschichte der Menschheit neu zu
schreiben. Das Getrommel des Paläo-Pop nervt."
Zuletzt möchte ich in eigener Sache sagen, dass es mir
persönlich ziemlich egal ist, ob die "Wiege der Menschheit" in
den Schulbüchern nun in Afrika oder Europa gesucht wird. Als
Biologe, der die Evolutionstheorie begriffen hat (und ich
maße mir an dieser Stelle diese Selbsteinschätzung an), liegt für mich die Wiege der
Menschheit in einem kleinen Stück Ozeanboden, auf dem sich vor
rund dreieinhalb Milliarden Jahren ein Haufen organischer
Moleküle zum ersten sich selbst replizierenden biochemischen
Reaktionssystem zusammengefunden haben. Und dieses Stück
Ozeanboden ist im Laufe der Plattentektonik vermutlich schon
längst wieder zu unterirdischem Magma aufgeschmolzen
worden.
_______________________
Fußnoten
Siehe z. B.
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Siehe die Arbeiten von
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Science 316(5829), 1328-1331.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass diese Studien
von Vertretern der Idee eines vierbeinigen Grundzustandes, z. B. David
R. Begun, teilweise stark kritisiert wurden.
Als Exkurs möchte ich hierbei Folgendes anfügen: Die
Tatsache, dass der Fund von Danuvius
durch Kivell & Schmitt (2009) de facto prognostiziert wurde,
zeigt sehr schön, dass es sich bei phylogenetischen Analysen
tatsächlich um wissenschaftliche Arbeit handelt und nicht
einfach nur um belangloses "Storytelling", wie es sowohl
Evolutionsleugner als auch manche experimentell fixierten Biologen
gelegentlich behaupten.
Autor:
Dominic Hopp
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
18.12.2019