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Neues aus der Forschung

Das Gehirn des frühen Homo erectus war noch nicht menschlich

Neue Forschungsresultate klären, ab wann das Denken menschlich wurde


Homo erectus aus Dmanissi

Der vor 2,0 Mio. Jahren in Afrika auftauchende Homo erectus galt lange Zeit als ältester Vertreter der urzeitlichen echten Menschen: Er ging aufrecht, beherrschte das Feuer, fertigte Steinwerkzeuge und vollzog in unserer Ahnenlinie den evolutionären Sprung vom Gejagten zum Jäger. Kein Wunder, dass die Hominini-Variante, die sich von Afrika aus nach Eurasien ausbreitete, die Pionierrolle in unserer Ahnenreihe zugesprochen bekam und mit der Bezeichnung Frühmensch geadelt wurde.

Titelbild: 1,8 Mio. Jahre alter Schädel des Homo erectus georgicus aus Dmanisi, Georgien. Bildquelle: Mohamed Noor -- Pixabay.com.

Dieses Bild bekam Risse, als die Wissenschaftler aus verschiedenen Regionen und Zeithorizonten mehr und mehr Skelette fanden, die vor allem durch eines bestechen: ihre Uneinheitlichkeit. Mit der Entdeckung von fünf ursprünglichen aber ungewöhnlich vollständigen Schädeln aus Dmanissi (Georgien) kam die Einsicht, dass die ersten Vertreter des Homo erectus weit mehr noch den sog. "Südaffen" (Australopithecinen) ähnelten als dem modernen Menschen. Neueste Untersuchungen legen nahe, dass dies auch auf die Hirnstruktur und somit auf die kognitiven Fähigkeiten des frühen Homo erectus zutrifft.

Das Großhirn von Menschen und Menschenaffen

Das Großhirn (Neokortex) des Menschen unterscheidet sich von dem der Menschenaffen nicht nur durch die Größe, sondern auch durch seine Struktur (s. Abb. 1). Der Frontal- oder Stirnlappen, der an kognitiven Aufgaben mitwirkt (soziale Intelligenz, Werkzeuggebrauch, Sprache) nimmt im Vergleich zum Hinterhauptlappen beim Menschen viel mehr Raum ein.

Dadurch liegt die Furche (Sulcus praecentralis), die den Frontallappen gegen den Scheitellappen abgrenzt, beim Menschen hinter der Knochennaht (Koronarnaht), die quer über den Schädel zwischen Stirnbein und Scheitelbein verläuft. Bei den Menschenaffen liegt die Furche noch im Bereich des Stirnbeins. Ein Teil des Frontalhirns, das Broca-Areal, ist beim Menschen für die Steuerung der Sprachmotorik zuständig und bildet eine auffällige Wölbung der frontal-orbitalen Gehirnoberfläche. Sie und andere Erhebungen und Furchen, ebenso wie Blutadern, hinterlassen Abdrücke am Schädeldach, die auch bei gut erhaltenen fossilen Schädeln sichtbar gemacht werden können.1)

Gehirnstruktur von Menschenaffe und Mensch

Abb.1 Ein markanter Unterschied zwischen den Gehirnen von Menschenaffen (A) und Menschen (B) liegt in der Organisation des Frontal- und des Hinterhauptlappens: Bei allen Affengehirnen liegt der primäre visuelle Kortex (17) am Rand einer gut sichtbaren halbmondförmigen Furche am Hinterhauptlappen, dem Sulcus lunatus (L). Zudem kreuzt der Sulcus praecentralis (pcs/pci) die Koronarnaht (Sutura coronalis, CO). Beim Menschen hingegen führten strukturelle Veränderungen des Gehirns einerseits zur Ausweitung des Frontallappens (präfrontalen Kortex). So entstand das Broca-Zentrum, welches für die Sprachmotorik zuständig ist (45/47). Dabei verschob sich der Sulcus praecentralis hinter die Koronarnaht (rote Pfeilspitzen). Andererseits kam es zur Expansion des hinteren Scheitellappens, der für kognitive Leistungen wie räumliches und abstraktes Denken, Antizipation von Handlungen und Mathematik zuständig ist. Dies führte zum Verschwinden der halbmondförmigen Furche am Hinterhauptlappen. Quelle: PONCE DE LEÓN et al. (2021).

Neue Erkenntnisse zur Hirnstruktur des Homo erectus

In einer neuen Arbeit untersuchten PONCE DE LEÓN et al.2) Schädelfragmente, die Homo erectus zugeordnet werden, mit Synchrotronstrahlung und modellierten Strukturen des Großhirns als 3D-Modelle (endocasts). Untersucht wurden unter anderem Fossilien aus Dmanissi (Georgien), zu denen fünf rund 1,8 Mio. Jahre alte, gut erhaltene Hirnschädel gehören. (Ältere Schädelfunde der Gattung Homo aus Afrika sind zu zerstreut und unvollständig für eine derartige Analyse.) Das Ergebnis überrascht: Die Areale des Großhirns der Dmanissi-Fossilien ähneln denen der Menschenaffen (Hominidae), weniger denen von Homo sapiens: Bei allen fünf fossilen Schädeln kreuzt der Sulcus praecentralis die Koronarnaht, was auf eine noch recht primitive Organisation des Frontallappens hinweist. Von einer Vergrößerung des Broca-Areals und den daraus resultierenden Strukturänderungen ist ebenfalls nichts zu erkennen.

Der Übergang von der primitiven zur abgeleiteten Struktur des Großhirns scheint erst vor 1,7 bis 1,5 Mio. Jahren erfolgt zu sein. Dies belegen mehrere nahe beieinander liegende – und aus zeitlich eng benachbarten Horizonten stammende – Funde:

  • Der sogenannte Turkana Boy (KNM-WT 15000) ist das Skelett eines Jugendlichen, der vor 1,5 bis 1,6 Mio. Jahren lebte. Es ist der vollständigste Fund eines Homininen, der je gemacht wurde. Sein Großhirn wird von den Autoren als primitiv eingestuft.
  • In der Nähe wurde ein etwas älteren Fossil (KNM-ER 3733) entdeckt, ein 1,65 Mio. Jahre altes, intaktes Schädeldach, das ebenfalls Abdrücke einer primitiven Hirnstruktur aufweist. Es gehört vermutlich zu einem weiblichen H. erectus und hatte ein Gehirnvolumen von rund 830 cm3.
  • Das 1,50 bis 1,65 Mio. Jahre alte Fossil KNM-ER 3883, ein vermutlich männliches Schädeldach, wird hingegen bereits als abgeleitet eingestuft.
  • Auch der 1,55 Mio. Jahre alte Fund KNM-ER 42700 wird als abgeleitet angesehen, trotz eines kleineren Gehirnvolumens.

Alle diese vier Fossilien wurden in Kenia in enger Nachbarschaft und aus nur wenig verschiedenen Zeithorizonten geborgen. Somit scheint die Evolution des Großhirns von H. erectus in Afrika einen schnellen, innovativen Schub durchgemacht zu haben. Jüngere Funde aus Südostasien zeigen durchweg die abgeleitete, menschenähnliche Organisation des Großhirns. Die Autoren vermuten, dass Vertreter des H. erectus mit innovativer Gehirnorganisation sich vor knapp 1,5 Mio. Jahren nach Eurasien ausbreiteten. Dabei ist unklar, ob sie die älteren Populationen, die Afrika vor rund 2,1 Mio. Jahren verlassen hatten, verdrängten oder sich mit ihnen vermischten.

Die Reorganisation des Großhirns setzte also nicht, wie man bisher vermutete, mit den ersten Vertretern der Gattung Homo vor ca. 2,8 Mio. Jahren in Afrika ein (H. habilis, H. rudolfensis und andere), sondern mehr als eine Mio. Jahre später. Sein Volumen nahm jedoch bereits zu dieser Zeit zu: Auf dem Weg von den Australopithecina zum frühen H. erectus verdoppelte es sich. Daraus lässt sich schließen, dass letzterer mit einem vergrößerten, insgesamt aber noch eher affenähnlichen Großhirn bereits über erhebliche kulturelle Fähigkeiten verfügte. Er eroberte Eurasien, stellte Steinwerkzeuge des Modus 1 (Oldowan) her und sorgte für ältere bzw. kranke Gruppenmitglieder (siehe die Funde von Dmanissi). Für diese Leistungen war die Modernisierung des Gehirns also keine Voraussetzung.3) Durch welche Selektionsfaktoren bzw. durch welche innere, systemische Dynamik die markante Reorganisation des Großhirns und seine weitere Größenzunahme in der Evolution veranlasst wurden, wissen wir nicht.

Trotz vereinzelter Kritik: das Bild stimmt

Der Doyen der Paläanthropologie, Bernhard WOOD (Washington D.C.), begrüßt die Ergebnisse von PONCE DE LEÓN et al., weist aber darauf hin, dass die Rekonstruktion von Gehirnstrukturen anhand des fossilen Schädeldachs Raum für Interpretationen lässt. Inwieweit man von der Oberfläche des vormenschlichen Gehirns auf seine Funktionen zurück schließen könne, müsse daher noch näher diskutiert werden, meint WOOD.4)

Die Diskussion ist für das Verständnis der menschlichen Evolution wichtig, weil H. erectus in ihr eine Schlüsselstellung einnimmt. Er lernte im Unterschied zu seinen evolutionären Vorfahren, Feuer zu nutzen und fertigte seit etwa 1,7 Mio. Jahren schwierig herzustellende Steinwerkzeuge des Modus 2 an (Acheuléen). Und er wurde, bewaffnet mit Steinklingen und hölzernen Speeren, von der Beute großer Prädatoren zu deren Konkurrenz. Der Evolutionsprozess, den die Spezies dabei durchlief, wurde erst allmählich durch die sich häufenden Fossilfunde deutlich.

Die meisten dieser Funde wurden zunächst als eigenständige (Unter-) Arten gelistet: H. ergaster in Afrika, H. georgicus bzw. H. ergaster georgicus in Georgien, H. antecessor in Westeuropa. In Asien stellten sich sowohl der sogenannte Peking-Mensch als auch der Java-Mensch als Formen von H. erectus heraus.

Der älteste Fund (DNH 134) stammt aus der Drimolen-Höhle in Südafrika, das Schädeldach eines ca. 3 Jahre alten Kindes, und ist 2,04 bis 1,95 Mio. Jahre alt. Er ist damit über 100.000 Jahre älter als die Funde von Dmanissi und mehr 300.000 bis 400.000 Jahre älter als der erwähnte KNM-ER-3883-Schädel aus Kenia, der älteste als fortschrittlich eingestufte Schädel. Als jüngster Beleg für H. erectus gelten Funde aus Java, denen ein Alter von 117.000 bis 108.000 Jahren zugeschrieben wird. Sie wurden zunächst als H. soloensis bezeichnet. Mit anderen, ähnlich alten Fossilien aus Java und den älteren Funden aus Sangiran (1,51 bis 0,9 Mio. Jahre) werden sie heute dem Java-Menschen zugeordnet.

Fazit

Obwohl sich derart alte Funde (noch) nicht genetisch untersuchen lassen, wurde durch ihre Vielzahl deutlich, dass es sich bei H. erectus um Populationen einer Spezies handelt, die sich während der 1,5 bis 2 Mio. Jahre ihrer Evolution weiter entwickelte und an unterschiedliche Lebensräume anpasste. Ihre frühen Vertreter ähnelten noch mehr den "Südaffen" (Australopithecina) als dem modernen Menschen. Auch ihre Gehirnstrukturen glichen denen von Menschenaffen; sie dachten und agierten noch nicht wie moderne Menschen.

Damit überschnitt sich die Variationsbreite des deutlich älteren H. habilis aus Afrika mit der von H. erectus. Denn H. habilis bzw. H. rudolfensis vermitteln, sowohl was die Größe des Gehirns und andere Merkmale betrifft als auch was ihre Werkzeugkultur angeht, zwischen den "Südaffen" und den Funden von Dmanissi. Von daher erweist sich die Evolution der Hominini bei aller Komplexität ihres Stammbaums mehr und mehr als ein Kontinuum, auch wenn jeder Fortschritt neue Fragen aufwirft.




Fußnoten

[1] Die in der Evolution zum Menschen wichtige Vergrößerung und Umstrukturierung des hinteren (pa-rietal-okzipitalen) Großhirns, das u. a. für die Verarbeitung optischer Information zuständig ist, lässt sich – so die Aussage von PONCE DE LEÓN et al. – an Abdrücken kaum erkennen.

[2] PONCE DE LEON, Marcia S. et al. (2021) The primitive brain of early Homo. Science 372, S. 165–171. Doi: 10.1126/science.aaz0032. Siehe auch: https://www.spektrum.de/news/homo-erectus-aelteste-menschen-dachten-noch-nicht-wie-Menschen/1856938 (Zugriff April 2021).

[3] Die oben genannten Resultate werfen ein Licht auf die Frage, warum es H. floresiensis, dem berühmten "Hobbit" von Flores, mit einem Gehirn nicht größer als das von "Südaffen" möglich war, Steinwerkzeuge herzustellen und Feuer zu nutzen. Ähnliches gilt für die rätselhafte Spezies H. naledi aus Südafrika, die noch vor rund 300.000 Jahren existierte.

[4] Siehe auch Amélie BEAUDET (2021) The enigmatic origins of the human brain. Science 372, S. 124.

Autor: Hansjörg Hemminger



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