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Besprechung

Die Evolutionstheorie: Naturwissenschaft oder Naturgeschichte?

Buchbesprechung: Schöpfung ohne Schöpfer? - Teil 3


Schöpfung ohne Schöpfer?

Die Buchautoren von WORT UND WISSEN (im Folgenden W+W genannt) vertreten eine fundamentalistisch-literale Auslegung der Bibel: Alle Texte der heiligen Schrift sind wörtlich auszulegen, was bedeutet, dass auch alle Erzählungen als real-historisch angesehen werden müssen. Dies wiederum bringt sie – wie alle Vertreter fundamentalistischer Glaubensauffassungen – in ernste Konflikte mit der Wissenschaft: Urknall, Galaxienentstehung, Bildung von Planetensystemen, die Evolution des Lebens, unsere eigene Frühgeschichte; dies alles hätte entweder gar nicht stattgefunden oder sich unter direkter göttlicher Einflussnahme in Jahrtausenden statt in Jahrmillionen vollzogen.

Kurzum, W+W muss an vielen Fronten etabliertes Wissen leugnen. Zu diesem Zweck verfolgen sie mehrere Strategien. Eine davon ist der Versuch, Wissenschaften mit historischer Komponente aus den Naturwissenschaften (genauer genommen: den empirischen Wissenschaften) herauszulösen. Sie stellen es so dar, als sei alles, was mit Historie zu tun habe, nicht ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchbar und vor allem nicht empirisch-wissenschaftlich entscheidbar. Die Historie falle daher eher in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie. In letzter Konsequenz wären Schöpfungsmythen und Evolutionstheorien erkenntnistheoretisch gleichwertig. Wie sieht nun die Argumentation seitens W+W konkret aus?

Die "Einengung" auf natürliche Wirkfaktoren

Eine der Strategien besteht darin zu behaupten, in der sogenannten "Ursprungsforschung" sei eine "Einengung" auf natürliche Wirkfaktoren nicht gerechtfertigt:

"Für die Beantwortung der Frage, welchen Ursprung das Leben hatte, ist die Einengung auf 'natürliche Faktoren' nicht zu rechtfertigen, wenn ergebnisoffen vorgegangen wird. Schöpfung ist willentliche, zielorientierte Handlung, sie lässt sich nicht oder wenigstens nicht ausschließlich mit Naturgesetzen verstehen oder aus Naturgesetzen plus Randbedingungen ableiten. Eine ergebnisoffene Forschung darf die Möglichkeit von 'Schöpfung' nicht von vornherein ausschließen." (S. 109)

"Heute ist der Einfluss der atheistischen Weltanschauung größer. Infolgedessen wird häufig versucht, Schöpfungshypothesen und Kritik an der Evolutionsanschauung von vornherein als unwissenschaftlich zu disqualifizieren …" (S. 110)

"Für die Beantwortung der Frage, welchen Ursprung das Leben hatte, hatte eine Ein-engung und Festlegung auf 'natürliche Faktoren' ideologische Gründe." (S. 110)

Die Behauptung, Schöpfungsereignisse würden von vornherein (aus atheistisch-ideologischen Gründen) ausgeschlossen, ist ein typischer Strohmann. Niemand schließt prinzipiell aus, dass es solche Ereignisse gegeben haben könnte. Nur hat bislang noch niemand belastbare Gründe vorgebracht, die diese Annahme stützen.

Entgegen W+W sind Schöpfungs-Ursachen ganz offensichtlich immer "natürliche Faktoren", wenn sie auf nachvollziehbare Weise in der Welt stattfinden. Ist die (empirische oder theoretische) Nachvollziehbarkeit gegeben, sind sie auch ein Objekt wissenschaftlicher Analyse. Solche Schöpfungsereignisse sind auch wissenschaftlich akzeptiert. Wer würde bezweifeln, dass ein komplexer Faustkeil aus der Altsteinzeit oder eine antike Festungsanlage geplant und gezielt erschaffen wurde? Damit wären wir beim Naturalismus angelangt, den W+W in nicht adäquater Weise auf den Atheismus verengt:

"Der Naturalismus ist für die Wissenschaften keine beliebige Setzung … Wissenschaftliche Hypothesen und Theorien sollen z. B. überprüfbar sein. Überprüfbar ist aber nur das, mit dem wir wenigstens indirekt interagieren können, und das, was sich gesetzmäßig verhält. Übernatürliche Wesenheiten entziehen sich hingegen per definitionem unserem Zugriff und sind auch nicht an (zumindest weltliche) Gesetzmäßigkeiten gebunden. Wissenschaftliche Theorien sollen ferner Erklärungskraft besitzen, d. h., sie sollen nicht alles erklären können, sondern nur genau das, was erklärt werden soll. … Übernatürliche Wesenheiten … kann man jedoch im Prinzip zur Erklärung von allem und jedem heranziehen." (MAHNER 2003, S. 138f).

Das ist der Grund, warum in keiner Wissenschaft (mit oder ohne Historie) übernatürliche oder (was erkenntnistheoretisch dasselbe ist) kausal nicht spezifizierbare "Faktoren" wie ein ominöses Design in Betracht gezogen werden. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern damit, dass nicht beurteilt werden kann, unter welchen Voraussetzungen die betreffende "Theorie" richtig wäre. Derlei "Theorien" sind weder naturwissenschaftlich noch wissenschaftlich in überhaupt irgendeinem Sinn.

Außer den genannten Zusammenhängen (s. o.: Kasten) spricht noch ein weiterer Grund für den Naturalismus: Bislang stieß die empirische Wissenschaft nur auf offene Fragen (jene zu klären ist ja ihre Aufgabe), aber nirgends auf Hinweise darauf, dass es in dieser Welt anders als "mit rechten Dingen" zugeht bzw. zuging. Empirische Wissenschaften nutzen den Naturalismus also faktisch als Ausgangs- und Grundhypothese und schauen, wie weit sie damit kommen. Und sie kommen sehr weit...

Während man sich also noch darüber streiten kann, ob Theorien mit historischer Komponente zu den Naturwissenschaften (sensu stricto) zählen oder nicht, herrscht unter Wissenschaftstheoretikern und Wissenschaftlern einhellig Konsens darüber, dass Götter, Magie und sonstige nicht-spezifizierte Faktoren nie Bestandteil vernünftiger Erklärungen sein können. W+W ignoriert die Gründe, warum das so ist.

Die W+W-Autoren scheinen hingegen zu glauben, dass sie (a) historische "Ursprungs"-Theorien generell als schlecht abgesichert und empirisch nicht entscheidbar brandmarken könnten und (b) daraus folgend anstelle natürlicher Ursachen nicht-spezifizierte Schöpfungsakte bzw. Übernatürliches ins Spiel bringen könnten. Eine solche "Methodologie" wäre aber genauso wenig zu rechtfertigen wie die Einführung übernatürlicher "Erklärungen" in die Gegenwartswissenschaften.

Der Darstellung seitens W+W liegt ein weiterer fataler Irrtum zugrunde: Wissenschaft ist immer ergebnisoffen – und bleibt es auch. Jahrhundertelang war "Intelligent Design" in den Naturwissenschaften sozusagen der Standard; diese "Ursprungstheorie" wurde dann jedoch sorgfältig geprüft und aus guten Gründen verworfen. Das ist normaler wissenschaftlicher Wettbewerb. Eines muss nämlich klar sein: "Ergebnisoffenheit" bedeutet nicht, jede nur denkbare Theorie als diskussionswürdig zu erachten. Ab einem bestimmten Punkt wird man schlecht begründete Ideen ad acta legen, so wie die Vis-Vitalis, das Phlogiston, den Weltenäther, Elfen und Kobolde. Dieses Vorgehen ist weder ungerechtfertigt noch "ideologisch motiviert" (S.110), sondern schlicht rational.

Das Argument der Nicht-Reproduzierbarkeit von Historischem

W+W wird nicht müde zu betonen, dass die Betrachtung der Evolution eine historische Wissenschaft sei, die sich von "Gegenwartswissenschaften" grundlegend unterscheide. Dies bedinge eine erhebliche Schwächung historischer Wissenschaften gegenüber Gegenwartswissenschaften, die stets Zugriff auf ihre Gegenstände hätten:

"Zugang zur Vergangenheit ist nur indirekt möglich." (S. 110)

"… Indizien historischer Ereignisse [sind] zufällig und meist ungenau und nur bruch-stückhaft überliefert, sie können kaum aktiv erweitert werden (wie bei Experimenten); es gibt keine Möglichkeit der Reproduktion und einer (gezielten) Verbesserung des Daten-satzes. Damit fehlen wesentliche Qualitätsmerkmale naturwissenschaftlichen, experi-mentellen Forschens." (S. 113)

"Neukamm ignoriert den Unterschied zwischen Experimenten (mit ihrem exakten Experimentalaufbau) und bloßen, zufällig vorliegenden historischen Daten. Geschichtlich einmalige Prozesse bzw. Ereignisse sind (im Experiment) nicht produzierbar und a fortiori nicht reproduzierbar." (S. 113)

"Denn in der Regel können Forschungsgegenstande nur dann genau erfasst werden, wenn man die Randbedingungen des Experiments kennt und diese genau einstellen und gezielt variieren kann." (S. 113)

Das mag im ersten Moment plausibel klingen, erweist sich aber in der Sache als völlig verfehlt: Auch die Gegenwartswissenschaften haben oft keinen direkten oder experimentellen Zugang zu ihren Objekten. Wir werden nie in der Lage sein, Proben von der Sonne oder anderen Sternen zu erhalten und damit zu experimentieren. Wir haben noch nicht einmal direkten Zugang zum Erdmantel und Erdkern. Die Bewegung der Kontinentalplatten und die Auffaltung von Gebirgen kann nicht experimentell nachvollzogen werden, weder die Vorgänge als solche, noch die kausal verantwortlichen Triebkräfte.

Große Bereiche des Weltalls sind durch die Hauptebene unserer Milchstraße uneinsehbar. Kosmische Beobachtungen beruhen – um mit W+W zu sprechen – überwiegend auf "zufällig vorliegenden" Daten, deren Randbedingungen weder "genau eingestellt" noch "gezielt variiert" werden können. Ferner gibt es Energiebereiche für Teilchenbeschleuniger, die wir niemals erreichen können. Quarks und Higgs-Bosonen können wir weder präparieren noch isolieren. Und von Dunkler Materie wissen wir nicht einmal, woraus sie besteht. Trotzdem spricht so viel dafür, dass wir ihre Existenz als wohlbestätigt bezeichnen können (Abb. 1).

Auch kann man zum Thema Klima und Klimawandel bestenfalls in extrem begrenztem Umfang Experimente durchführen. Und sogenannte chaotische Systeme sind aus prinzipiellen Gründen nicht vorhersagbar: Die Vorhersage der Flugbahn eines losgelassenen Luftballons ist unmöglich, ebenso wie die Vorhersage des Wetters in drei Wochen. Und wenn W+W recht hätte, dann wäre auch die Forensik keine empirische Wissenschaft, denn wir haben ja auch keinen Zugriff auf die in der Vergangenheit liegende Tat. Wir können das Geschehen zwar vielleicht modellieren, aber nicht wirklich wiederholen (schließlich ist die Leiche ja schon tot...).

Dunkle Materie in der Milchstraße

Abb 1 Künstlerische Darstellung der erwarteten Verteilung der Dunklen Materie um die Milchstraße. Ihre Existenz wurde postuliert, da die Rotation der Arme von Spiralgalaxien nicht mit dem NEWTONschen Gravitationsgesetz vereinbar zu sein schien. Bis heute lässt sich Dunkle Materie nur indirekt nachweisen aber weder experimentell reproduzieren noch spezifizieren. Trotzdem hat sich das Konzept so gut bewährt, dass wir es als wohlbestätigt erachten müssen. Wollte man die "Wissenschaftstheorie" von W+W ernst nehmen, könnte man weite Teile der Astrophysik zur Geisteswissenschaft degradieren. Bildquelle: ESO/L. Calçada, Artist's impression of the expected dark matter distribution around the Milky Way, CC BY 4.0.

Entgegen der naiv-empiristischen Wissenschaftsauffassung von W+W ist für naturwissenschaftliches Arbeiten also nicht die Art der Beobachtung von Belang, sondern der folgerichtige Umgang mit den Daten (MAHNER 1986, S. 41).

Dazu wieder ein Beispiel: Der 3K-Mikrowellenhintergrund, das im Kosmos messbare Stoffmengen-Verhältnis von Wasserstoff zu Helium sowie die Rotverschiebung des Lichts entfernter Galaxien werden von der Urknall-Theorie (und nur von dieser) präzise vorhergesagt und erklärt. Mögliche Alternativ-Theorien, wie etwa die Theorie der "Lichtermüdung", leiden darunter, dass sie nur einen kleinen Teil dieser Befunde gleichermaßen erklären können und willkürlich bestimmte Zusatzannahmen einführen müssen.

Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich die Erkenntnis, dass die Physik von Supernovae 1a physikalisch immer gleich abläuft.1) Das bedeutet, man kann berechnen und beobachten, dass die Lichtkurven von Sternexplosionen dieses Typs immer einen identischen Zeitverlauf haben. Daher ist die Lichtkurve physikalisch immer gleich.

Das Spannende ist nun, dass mit großer Entfernung (sprich: tief in der Vergangenheit) die Zeitskala der beobachteten Helligkeitskurve immer mehr gedehnt wird. Das ist der kosmologische Effekt einer Raum-/Zeitdilatation: Sternexplosionen, die vor sehr langer Zeit stattfanden, benötigten aus heutiger, irdischer Perspektive mehr Zeit. Das heißt, die Zeit unterliegt ebenfalls einer Expansion, was sich mit keiner anderen Theorie erklären lässt, als mit der Urknalltheorie (Abb. 2).

Effekt der Zeitdilatation in Abhängigkeit der Entfernung, angegeben als Rotverschiebung des Lichts

Abb 2 Der Effekt der Zeitdilatation in Abhängigkeit der Entfernung, angegeben als Rotverschiebung des Lichts. Nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit unterliegt der Expansion (blaue Gerade). Alternative Theorien wie die "Lichtermüdung" würden hingegen eine zeitliche Konstanz erwarten lassen (rote Gerade). Sie könnten bestenfalls "mit Gewalt" modifiziert werden. Bildquelle: Josef GASSNER, Bildschirmaufnahme aus seinem Vortrag "Geht's auch ohne Urknall?", (Min. 33:35).

Auch historische Fakten wie der Urknall sind also naturwissenschaftlich so gut belegbar, wie es ein Faktum nur sein kann. Die Tatsache, dass sich der Urknall weder experimentell erschließen noch derzeit befriedigend mechanismisch erklären lässt, ändert daran nicht das Geringste. Wie VOLLMER (2008, S.53–64) zeigt, kann es auch von historisch Einmaligem eine fruchtbare Naturwissenschaft geben.

Mit der Evolutionstheorie verhält es sich genauso: Ob abgestufte Ähnlichkeit der Arten, fossile Zwischenformen, Atavismen, homologe / orthologe / paraloge Gene, dysfunktionale Organe oder die spezielle Verteilung endogener Retroviren: Ohne eine Theorie, in der Begriffe wie "gemeinsame Abstammung", "zufällige Variation" und "Selektion" vorkommen, ist keines dieser Phänomene erklärbar. Der Naturprozess der Makroevolution ist schlicht die beste Erklärung für die beobachtbare Welt.

Auch hier ändert die fehlende experimentelle Reproduzierbarkeit an der Logik der Beweisführung nicht das Geringste: Die transspezifische Evolution (Makroevolution) ist und bleibt auch dann ein naturwissenschaftlich wohlbestätigtes Faktum, wenn wir aufgrund der Historizität des Prozesses und des limitierten Datenbestands für die meisten Arten nicht genau wissen, wie und über welche Zwischenstufen sie sich entwickelt haben. Dazu muss man wissen, dass die empirischen Belege, die einen Naturprozess absichern, logisch unabhängig von jenen Theorien und Modellen sind, die sich mit den Details und den Ursachen bzw. Mechanismen des betreffenden Naturprozesses befassen.

Fassen wir zusammen: Naturwissenschaft ist nicht auf simple Weise gleichzusetzen mit "experimentellem Zugriff" und "Reproduzierbarkeit". Ihr Kern ist, wie POPPER erkannt und beschrieben hat, ihre deduktiv-schlussfolgernde Methode: Wir versuchen, etwas bislang Unerklärtes zu erklären, indem wir Theorien bzw. Modelle konstruieren, die oft auch auf neue Entitäten und Mechanismen Bezug nehmen. Daraus werden Hypothesen generiert, die anhand deduzierter (aus ihnen hergeleiteter) Vorhersagen überprüft werden. Dadurch werden auch direkt unbeobachtbare und nicht experimentell zugängliche Entitäten oder Prozesse zu wohlbestätigten Fakten:

"Die Beobachtbarkeit historischer Prozesse ist demnach nicht wesentlich verschieden von der Beobachtbarkeit von Kernreaktionen oder der chemischen Zusammensetzung von Wasser (KITCHER 1982, S. 35 ff.)." (MAHNER 1986, S. 41f.)

Der Operationalismus: ein wissenschaftstheoretisches Relikt

Des Weiteren ist die Ansicht falsch, Gegenwartswissenschaften könnten ihre Objekte stets "operationalisieren" und geschlossene Theorien in Form von Allsätzen formulieren:

"Theoretische Entitäten wie 'Elektronen', 'Positronen' usw. sind indirekt zugänglich. Es gibt eine gegenständliche, theorievermittelte Entsprechung, die direkt wahrnehmbar (ggf. via Messgerät) und experimentell zugänglich ist: Man sagt auch, alle physikalischen Entitäten sind operationalisierbar, d. h. über deren Vorliegen wird vermittels eines definierten Messverfahrens entschieden." (S. 113)

"Aufgrund der beobachteten Phänomene und vermittelt durch einen klaren natur-gesetzlichen Zusammenhang ist es legitim zu behaupten, Atome seien indirekt beobachtbar. Vergangene Prozesse sind — bei allen vorhin genannten Unterschieden zu aktuellen Prozessen — ebenfalls nicht beobachtbar. Auf ihre Existenz wird — je nach Indizienlage — mehr oder weniger sicher geschlossen." (S. 114)

Hier zeigt sich ein antiquiert-positivistisches Wissenschaftsverständnis: Die Zeiten sind längst vorbei, als man in der Wissenschaftstheorie nur Entitäten akzeptierte, die sich über bloße Erscheinungen, Messungen, beobachtbares Verhalten etc. definieren lassen. Dieser Operationalismus erwies sich als unhaltbar, weil die Bedeutung physikalischer Begriffe über das Beobachten, Protokollieren und Reproduzieren von Messdaten hinausgeht (siehe dazu MAHNER 2007).

Es ist daher auch völlig verfehlt, die historische Debatte zwischen den "Instrumentalisten" und den "wissenschaftlichen Realisten" wieder aus der Klamottenkiste zu holen (W+W, Seite 115). Es ist keineswegs so, wie suggeriert wird, als würde die Wissenschaft das Neutrino-Konzept akzeptieren, weil es "indirekt über entsprechende Messaufbauten und –verfahren" "beobachtbar" sei: Der zweifelsfreie experimentelle Nachweis kam erst später.

Um es zu wiederholen: Nicht die Art der Beobachtung gibt den Ausschlag, sondern die Frage, wie erklärungsmächtig Theorien sind. Das Neutrino-Konzept hat sich als so erklärungsmächtig erwiesen, dass Neutrinos als physikalisch real existierende Entitäten betrachtet werden. Das ist bei der so bezeichneten "Makroevolution" nicht anders.

Historische Zufälle: Das vermeintliche Fehlen von Naturgesetzen

"Theorien werden [in den Naturwissenschaften; A.B.] dabei als 'Allsätze' der Art 'immer wenn X gegeben ist (und Randbedingungen R), folgt Y' formuliert." (S. 110)

"Naturwissenschaft betreiben heißt: Gesetzmäßigkeiten herausfinden und Modelle auf Basis solcher Gesetzmäßigkeiten aufstellen, um natürliche Vorgänge zu beschreiben und auch Vorhersagen zu machen. Wäre die Geschichte des Lebens wirklich rein naturwissenschaftlich beschreibbar, dann müsste sie als naturgesetzlich ableitbare Folge von Ereignissen darstellbar sein." (S. 117)

"In Ursprungsfragen kann man – sobald der experimentell zugängliche Bereich der Mikroevolution verlassen wird – nur 'weiche' Vorhersagen machen, 'weich' im Sinne von plausibel oder naheliegend, aber nicht (formal) zwingend …" (S. 119)2)

Wie das folgende Beispiel aus einer "Gegenwarts-Wissenschaft" zeigt, ist diese Sichtweise völlig falsch: Feinstaub und Stickoxide schädigen auf lange Sicht, doch erbliche Vorbelastungen, gesundheitlicher Status, Essverhalten, Alkoholkonsum etc. sind zusätzliche Faktoren, welche die Ursachenanalyse stark erschweren.

"Formal zwingend" ist daher gar nichts; Allsätze von der Art: "Immer, wenn Feinstaub und Stickoxide eingeatmet werden, entwickeln sich Herz- und Lungenerkrankungen", lassen sich nicht formulieren. Individuelle Prognosen sind faktisch unmöglich, weil es die von W+W geforderte "naturgesetzlich" ableitbare Folge von Ereignissen eben nicht gibt. Trotzdem käme niemand auf die Idee zu leugnen, dass es sich hier um eine naturwissenschaftlich zu klärende Frage handele.

Analog gilt: Wenngleich niemand die Entstehung von Krebs, den Einsturz einer Brücke oder die Bildung von Planetensystemen individuell vorhersagen kann, bestehen trotzdem keine vernünftigen Zweifel daran, dass sich die betreffenden Ereignisse auf dem Boden von Mechanismen und Naturgesetzen erklären und damit naturwissenschaftlich modellieren lassen. Dasselbe gilt für evolutionäre Ereignisse:

"Falls erklärend, werden evolutionäre Modelle Gesetze und Mechanismen umfassen, obwohl diese nicht unbedingt deduktiv-nomologisch formuliert sein müssen. So wird etwa ein Modell der Evolution der Vögel, solange es sich dabei nicht um eine just-so-story handelt, vom gesamten vorhandenen biologischen Wissen Gebrauch machen: von vergleichender und funktioneller Morphologie (Struktur und Funktion der relevanten Vogelmerkmale), von Entwicklungsbiologie (Erklärung der Reduktion und Fusion der Finger zu einem Flügel), von Paläozoologie und Systematik (Reihenfolge der Entstehung der Vogelmerkmale) und von Ökologie (Rolle und Passungswert der Vogelmerkmale). Dieses Beispiel bietet reichlich Platz für morphologische, physiologische, ontogenetische und ökologische Gesetze und Mechanismen." (MAHNER & BUNGE 2000, S. 344)

Ob Mikro-, Meso-, Makro- oder sonst eine Evolution ist dabei vollkommen unerheblich; die Natur "denkt" nicht in den künstlichen Schublädchen von W+W.

Das Kriterium der Vorhersagbarkeit: Prognosen, Retrodiktionen und die hypothetisch-deduktive "Methode"

Damit kommen wir zum dritten Argument, der Vorhersagbarkeit: W+W versucht, einen relevanten Unterschied zu konstruieren zwischen "echten Prognosen" in den "Gegenwarts-Wissenschaften" und vorgeblich minderwertigen "Retrodiktionen" historischer Wissenschaften. W+W schreibt:

"Retrodiktionen sind – entgegen Neukamm – in historischen Fragen keineswegs logisch äquivalent mit Vorhersagen. Wären sie das, dann könnte vorhergesagt werden, welche weiteren Veränderungen in der Evolution der Lebewesen eintreten …" (S. 117)

"Insgesamt zeigt sich, dass das Schlussverfahren in naturhistorischen Fragen sich nicht als hypothetisch-deduktiv erweist (weil keine eindeutigen Vorhersagen auf der Basis von Gesetzmäßigkeiten ableitbar sind), sondern als abduktiv." (S. 119)

"Da man bei empirischen Theorien verschiedene Parameter variieren und ganze Versuchsserien durchführen kann, können auf diese Weise Theorien vor falschen Bestätigungen und falschen Widerlegungen geschützt werden. Dies ist bei historischen Theorien nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich". (S. 119)

"Zur Überprüfung von Prognosen können von Versuch zu Versuch Randbedingungen gezielt und nach Wahl variiert werden. Bei Retrodiktionen haben wir es dagegen mit zufällig vorliegenden Variablen zu tun, auf die wir keinen Einfluss nehmen können." (S. 119/20)

Hieran zeigt sich sehr deutlich die naiv-empiristische Sichtweise von W+W auf Wissenschaft, insbesondere ein Missverständnis dessen, was "Prognose" bedeutet. Diesen Punkt hat Karl Popper in "Die Logik der Forschung" 1935 sehr gut herausgearbeitet. – Ganz allgemein ausgedrückt: Jede wissenschaftliche Theorie sowie überhaupt jede wissenschaftliche Aussage muss alle Dinge und Ereignisse in zwei (nicht-leere) Klassen einteilen: die erlaubten und die verbotenen. Ob die erlaubten nun in der Zukunft liegen oder in der Gegenwart oder Vergangenheit, ist völlig unerheblich. Es müssen schlichtweg aus jeder empirisch-wissenschaftlichen Theorie per Deduktion derlei trennscharfe Aussagen herleitbar sein.

  • Wenn Kalkriese wirklich der Ort der Varusschlacht war, dürfen dort in ungestörten Fundkontexten keine Münzen zu finden sein, die nach dem Datum der letzten Anwesenheit von Römern vor Ort (die Expedition des Nero Claudius Germanicus bis 16 n.Chr.) geprägt wurden.
  • Wenn Caesar wirklich im Sommer 52 v.Chr. gegen Vercingetorix kämpfte, kann er nicht gleichzeitig in Ägypten gewesen sein.
  • Wenn die Ureinwohner Amerikas tatsächlich aus Ostasien kamen, müssen sich Gemeinsamkeiten sprachlicher, kultureller und genetischer Art finden lassen, während sich solche Übereinstimmungen mit Europäern und Afrikanern nicht finden dürfen.
  • Wenn die Sonne tatsächlich ihre Energie mit der Proton-Proton-Reaktion und in geringem Umfang dem CNO-Zyklus gewinnt, muss das definierte und vorhersehbare Konsequenzen für ihre (messbare) Neutrino-Produktion haben.

Die Theorien historischer Wissenschaften sind die Geschichten, die Storys: Und diese folgen einer inneren Logik. Darüber hinaus müssen sie mit (gesichertem!) Hintergrundwissen (aus demselben Forschungsbereich wie auch aus anderen Wissenschaften) kompatibel sein. Damit unterliegen sie konkreten Randbedingungen, an denen sie sich testen lassen (siehe oben).

Eine Unterscheidung zwischen Deduktion und Abduktion, Prognose und Retrodiktion ist hierbei gegenstandslos: Abduktion ist nichts anderes als hypothetisch-deduktives Schlussfolgern, und auch der Begriff "Ursprungstheorie" oder "Ursprungsforschung" als scheinbarer Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Theorie dient nur der Verschleierung der Fakten.

Machen wir es konkret anhand der Evolution und stellen uns folgende Situation vor: Wir haben Wirbeltiere untersucht und dabei auch deren Skelett und Knochenaufbau charakterisiert. Nun finden wir in Sepien auch ein Skelett, den "Rückenknochen" (Schulp). Jetzt können wir zwei alternative Vorhersagen treffen, die einander ausschließen und wiederum eigene, überprüfbare Bedingungen enthalten:

  • "Knochen" ist eine Symplesiomorphie, wurde also von gemeinsamen Vorfahren geerbt. Dann müssen (a) unsere Knochen und Schulpe einen ähnlichen Aufbau und ähnliche Biogenese aufweisen (Material, ontogenetische Herkunft, Natur der auf- und abbauenden Zellen etc.) und (b) müssen diese Strukturen bis zu den gemeinsamen Vorfahren (das waren "Würmer") paläontologisch zurückzuverfolgen sein,

oder:

  • Knochen und Schulpe sind Autapomorphien (charakteristische Ausbildungen) der betreffenden Gruppen (Wirbeltiere bzw. Sepien), dann müssen (a) Knochen und Schulpe einen unterschiedlichen Aufbau und unterschiedliche Biogenesewege aufweisen und (b) dürfen unsere gemeinsamen Vorfahren (und darüber hinaus die Vorfahren der beiden benannten Gruppen) keine vergleichbaren Strukturen besitzen.

Beides ist nicht "mischbar": Entweder gilt Version A oder Version B.

Ein weiteres Beispiel:

  • Wenn es stimmt, dass Säuger von therapsidischen Reptilien und Vögel von Theropoden abstammen und Reptilien wiederum von Amphibien usw., dann müssen solche Beziehungen auch auf der Ebene der Embryologie, der Molekulargenetik und der Paläontologie existieren.

Es kann (und darf!) nicht sein, dass eines Tages Fossilien mit deutlichen Übergangsmerkmalen Theropoden-Säuger oder Amphibien-Vögel gefunden werden oder dass molekulare Stammbäume Säuger in die Verwandtschaft der Knorpelfische und Vögel in die Verwandtschaft der Manteltiere rücken.

Das Aktualitätsprinzip: ein unprüfbare Ad-hoc-Annahme?

"BRESTOWSKY (2009) diskutiert eine Reihe von Kennzeichnungen des Aktualismus und kommt zum Schluss, dass der Aktualismus als eine ad-hoc-Annahme erdacht wurde, um den Naturwissenschaften eine Hintertür zur Vergangenheit zu öffnen. 'Er steckt als unverzichtbare Prämisse in sämtlichen naturwissenschaftlichen Versuchen, das geschichtliche Werden von Kosmos und Leben im Ganzen oder in Teilen zu erforschen.' Wir wüssten zwar eine ganze Menge durch naturwissenschaftliche Forschung, doch ändere dies nichts an der Tatsache, dass die Extrapolation dieser Erkenntnisse auf die Vergangenheit und die gesamte Evolution eine unüberprüfbare und daher nicht naturwissenschaftlich-prediktive, sondern eine philosophische, und somit konsistente Theorie ist und bleibt." (S. 116)

Leider ist an diesen Aussagen so gut wie alles falsch; außerdem unterschlägt W+W, dass BRESTOWSKYs seltsame Argumentation nicht unwidersprochen blieb (siehe dazu NEUKAMM 2009). Doch der Reihe nach: Was ist das Aktualitätsprinzip eigentlich?

Gemäß dem Aktualitätsprinzip (Aktualismus) hatten heutige Naturgesetze und -konstanten (und allgemeiner: Mechanismen) schon in der Vergangenheit ihre Gültigkeit. Dadurch sind Rückschlüsse von heutigen Abläufen auf Bildungsprozesse in der Vergangenheit möglich. Findet man etwa in Gesteinsschichten fossile Rippelmarken, die aktuellen Sedimentstrukturen (z. B. am Strand von Borkum) gleichen, kann man davon ausgehen, dass die Rippelmarken durch dieselben Mechanismen entstanden sind wie die Strukturen am Strand. Dies erlaubt den Schluss, dass sie versteinerten Meeresboden repräsentieren und im Laufe von Jahrmillionen durch Kräfte im Erdinneren allmählich über den Meeresspiegel gehoben wurden (Abb. 3).3)

Der Aktualismus ist somit ein Spezialfall des Sparsamkeitsprinzips: Es ist vernünftig, davon auszugehen, dass die Art der Interaktion zwischen materiellen Dingen ("Natur-gesetze") nicht erst heutzutage gelten. Von diesem Prinzip muss freilich in vernünftiger Weise Gebrauch gemacht werden, denn Mechanismen sind in einem sich entwickelnden Universum nicht zeitlos, sondern gelten (abgesehen von einigen elementaren Gesetzen der Physik sowie den Naturkonstanten) in Raum und Zeit nicht uneingeschränkt. So gab es kurz nach dem Urknall noch keine Chemie, weil Atome erst später entstanden. Ebenso gelten die uns bekannten Gesetze der Biologie begreiflicherweise nur für irdisches Leben. Allgemeine evolutionäre Mechanismen gelten zumindest seit dem Präkambrium. Dem Regime der Selektion unterlagen bereits die ersten selbstreplizierenden RNA-Stränge, Mutationen finden statt, seit RNA existiert, usw.

Aktualismus: Fossile und rezente Rippelmarken

Abb 3 Links: Fossile Rippelmarken in den Bayerischen Haßbergen. Bildquelle: R.Kirchner, Rippelmarken Hassberge ReiKi, Bild beschnitten, CC BY-SA 3.0. Rechts: Rezente Rippelmarken am Strand von Borkum. Bildquelle: User:Amanda77, Ebbe, Bild beschnitten, CC BY-SA 3.0.

Das Aktualitätsprinzip ist aber nicht nur Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten, sondern umgekehrt auch Ergebnis empirischer Forschung. Findet man beispielsweise fossile Meeresbewohner in einer mit Rippelmarken übersäten Schichtfläche, wird die These, dass es sich dabei um fossilen Meeresboden handelt, unabhängig (!) von der aktualistischen Methodologie belegt. Umgekehrt wird mit der betreffenden Hypothese auch die methodologische Aktualitätsannahme überprüft – und bestätigt.

Weitere Beispiele: Es gilt heute als gesichert, dass die Feinstrukturkonstante Alpha und die damit korrelierenden Größen wie das PLANCKsche Wirkungsquantum, die Lichtgeschwindigkeit usw. innerhalb der letzten 12 Milliarden Jahren von den heutigen Werten bestenfalls um Bruchteile eines Promilles abwichen (KEHSE 2006). Selbiges gilt für die Halbwertszeiten des radioaktiven Zerfalls, deren Konstanz Dank des "Naturreaktors" von Oklo für die letzten 2 Milliarden Jahre als erwiesen gilt.

Wir sehen also, dass das Aktualitätsprinzip mit einer unüberprüfbaren Ad-Hoc-Annahme nichts zu tun hat. Korrekt ist lediglich: Es lässt sich nicht durchgehend empirisch belegen – so wie gar nichts auf dieser Welt. Solch eine Forderung wäre auch naiv, andernfalls wäre mit jedem neuen Tag keine einzige wissenschaftliche Publikation mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurde. Schließlich könnten sich sämtliche Naturgesetze ja über Nacht wieder grundlegend verändert haben!

Im Übrigen verschweigt W+W, dass die "Gegenwartswissenschaften" ein dem Aktualismus analoges Prinzip beinhalten: die räumliche Extrapolation von Labor-Erkenntnissen in teils weit entfernte Bereiche der Wirklichkeit. Selbst experimentelle Messdaten, die in aller Regel unter idealisierten, häufig kontrafaktischen Randbedingungen zustande kommen, erfordern eine Extrapolation in die Wirklichkeit.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die historische Evolutionsbiologie nicht grundsätzlich von empirischen Wissenschaften wie der Geologie oder der Astrophysik. Würden wir also den Aktualismus infrage stellen, könnten wir genauso gut bestreiten, dass das Gravitationsgesetz auf dem Jupiter, auf dem Sirius, in der Andromeda-Galaxie oder vor 200.000 Jahren Gültigkeit besaß.

Hier greift "OCKHAMs Rasiermesser": Solange der Aktualismus nicht widerlegt (sondern im Gegenteil durch stetige Gewinnung konsistenter Daten und Theorien bestätigt) wurde, ist er die sparsamste Hypothese ("Nullhypothese") und darüber hinaus ein Garant wissenschaftlicher Forschung. Es wird deutlich, dass der Aktualismus das Arbeiten nicht nur in den historischen, sondern in allen empirischen Wissenschaften leitet. Und es sollte den Lesern zu denken geben, dass W+W immer wieder gezwungen ist, Grundprinzipien in Frage zu stellen, auf denen nicht nur historische Theorien, sondern die Naturwissenschaften insgesamt fußen.

Wird die Evolutionstheorie ad hoc an beliebige Daten angepasst?

Dass auch in der Evolutionstheorie nach der hypothetisch-deduktiven "Methode" verfahren wird, wird von W+W verschleiert, zum Beispiel, wenn sie schreiben:

"Man kann viele Beispiele unerwarteter Fossilfunde nennen, so etwa Funde vierflügeliger Vogel aus dem Oberjura." (S. 118)

Nein: Es geht nicht darum, was "erwartet" oder "unerwartet" ist. Bräuchten wir nicht mehr mit Unerwartetem zu rechnen, könnten wir aufhören zu forschen. Der Ausgang der meisten Experimente und Beobachtungen ist offen bzw. unerwartet, sonst könnte man sich die Mühe sparen. Hier werden, rhetorisch durchaus geschickt, die Begriffe "erwartet" / "unerwartet" in unzulässiger Weise vermengt mit dem, was gemäß den deduzierten Folgerungen der Theorie erlaubt oder verboten ist. Folgendes Zitat zeigt sehr deutlich, mit welcher Strategie W+W hier vorgeht:

"[aus Sommer & Riebesell 2009] 'Diese Beobachtung [Konservierung der Regulationsgene] kam in den 80er und frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts vollkommen unerwartet, da man immer davon ausgegangen war, daß die Körpergrundgestalten der unterschiedlichen Tiergruppen von ganz verschiedenen Genen reguliert würden. Noch in den 1950er und 1960er Jahren hatte man angenommen, dass es gar keine konservierten, das heißt homologen Gene geben könne. Heute können wir die hohe Konservierung der Entwicklungskontrollgene als einen wichtigen zusätzlichen Beweis für die Evolutionslehre ansehen' … Irgendwelche Befunde werden als Beweise (!) für Evolution ausgegeben, selbst wenn sie unter evolutionstheoretischen Vorgaben 'vollkommen unerwartet' waren. Hier ist mit Händen zu greifen, dass es nicht um Bestätigungen von Vorhersagen geht, sondern die Argumentation nachträglich und ad-hoc an die Daten angepasst wird." (S. 118)

Zunächst einmal ist der Kontext inkorrekt dargestellt: In den 1950er Jahren wusste man faktisch nichts über Gene und schon gar nichts über Sequenzen. Daher gab es – außer ein paar vagen Spekulationen – keine auch nur halbwegs fundierten Erwartungen in Bezug auf konservierte, homologe Gene. Damit ist hier die gesamte wissenschaftliche Begründungslogik verdreht: Man kann immer nur auf der Basis konkreten Wissens etwas Konkretes aus einer allgemeinen Theorie schlussfolgern. Da man bis in die 1980er Jahre nichts über die Molekularbiologie der Keimesentwicklung wusste, ist es alles andere als erstaunlich, dass die Entdeckung hochkonservierter Steuerungsgene "unerwartet" kam.

Was W+W anscheinend nicht verstanden hat: Da die Evolutionstheorie eine sehr allgemeine Theorie ist (und darüber hinaus wie die Mechanik oder die Molekültheorie ein Theorienbündel ist), ist es nur logisch, dass sie spezifiziert werden muss, um auch Konkretes erklären zu können. Diese Spezifikation oder "Anpassung" der Evolutionstheorie erfolgt hier aber keineswegs willkürlich, wie W+W suggeriert, sondern hier in diesem Falle durch Integration von Erkenntnissen aus einem anderen Wissenschaftszweig, nämlich der Entwicklungsbiologie: Erst seit kurzem wissen wir aus Experimenten ziemlich gut, welche Entwicklungs-Kontrollgene die Ausprägung welcher Merkmale beeinflussen, welche Abwandlungen tolerabel sind und wie Systemzwänge wirken. Dieses Wissen ist unabhängig von der Evolutionstheorie prüfbar.

Berücksichtigt man dieses (neue!) Wissen, so wird die artübergreifende Konservierung der Entwicklungsgene, die Tatsache, dass alle Arten auf ein beschränktes Repertoire hochkonservierter Entwicklungsgene zurückgreifen, erklärbar: Organismen können nicht "vorübergehend wegen Umbaus geschlossen werden", so dass komplexe Steuer- und Regelmechanismen artübergreifend nicht mehr grundlegend veränderbar sind, falls eine gemeinsame Stammesgeschichte vorliegt. Kurz: Hier liegt eine unabhängige Bestätigung der Evolutionstheorie vor, und keine willkürliche (zirkelschlüssige) "Konsistenzmachung", weil dieser Sachverhalt aus der spezifizierten Evolutionstheorie folgt.

Zusammenfassung

W+W spricht der Evolutionsbiologie, die sich teils mit historischen Prozessen beschäftigt, den Status einer Naturwissenschaft ab. Zu diesem Zweck misst sie die Biologie an einer streng empiristischen Wissenschaftsdefinition, die allerdings noch nicht einmal der Physik gerecht wird. Selbst wenn das angemessen wäre (was nicht der Fall ist), ignoriert W+W, dass auch historische Ereignisse wie der Urknall oder Prozesse wie "Makroevolution" so gut belegbar (und belegt) sind, wie es wissenschaftliche Fakten nur sein können. Ausschlaggebend für die Belegsituation ist nämlich nicht die Art der Beobachtung oder das Experiment, sondern der folgerichtige Umgang mit den Daten.

Zudem ist die Diskussion über den naturwissenschaftlichen Status der Evolutionstheorie für W+W gar nicht zielführend. Erstens gibt es in der Fachwelt gar keinen Streit darüber, ob Theorien mit historischer Komponente zu den Naturwissenschaften (sensu stricto) zählen oder nicht: Selbstverständlich ist das möglich! Zweitens herrscht unter Wissenschaftstheoretikern und Wissenschaftlern einhellig Konsens darüber, dass nicht-spezifizierte Faktoren wie Götter, Magie und sonstige Elemente nie Bestandteil vernünftiger Erklärungen sein können, weil sie alles - und damit gar nichts erklären. W+W ignoriert die Gründe, warum das so ist, und schert damit aus dem rationalen Diskurs aus.

Literatur

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MAHNER, M. (2003) Naturalismus und Wissenschaft. Skeptiker 16, S. 137–139.

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MAHNER, M. & BUNGE, M. (2000) Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer-Verlag.

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POPPER (1935) Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Springer-Verlag.

VOLLMER, G. (2008) Kann es von einmaligen Ereignissen eine Wissenschaft geben? In: Was können wir wissen? Bd. 2, die Erkenntnis der Natur. 4. Aufl. Hirzel-Verlag, S. 53–64.




Fußnoten

[1] Tatsächlich sind die Zusammenhänge komplexer, und es gibt auch von 1a-Supernovae nochmals Untertypen. Das ist hier jedoch ohne Belang.

[2] Die Absurdität dieser Auffassung zeigt sich schon daran, dass W+W anzunehmen scheint, es gäbe im "experimentell zugängliche Bereich Mikroevolution" formal zwingende Vorhersagen. Doch seit wann sind Punktmutationen vorhersehbar? Einzig reproduzierbar sind die (ontogenetischen) Entwicklungsgesetze, mit deren Hilfe man Evolutionsmodelle erstellen kann.

[3] Analoges gilt für die Evolution. So wissen wir beispielsweise, welche entwicklungsgenetischen Mechanismen in der Embryonalentwicklung heutiger Fledertiere die Bildung von Fledermausflügeln verursachen. Daraus lässt sich rückschließen, welche Mechanismen (bzw. genetischen Modifikationen) bei der erstmaligen Entstehung (Evolution) der Fledermausflügel eine Rolle gespielt haben könnten.

Autor: Andreas Beyer

Copyright: AG Evolutionsbiologie