Warum
der neue Neue Atheismus nicht trifft. SCM-Verlag, Witten, 1. Auflage
2013
Das Buch von John Lennox über den "Neuen
Atheismus" ist – wie zwei frühere Werke -
in der Reihe "Glaube und Wissenschaft" erschienen,
die von Jürgen Spieß (Marburg) herausgegeben wird.
Ich kann es auch aus christlicher Perspektive nicht zur
Lektüre empfehlen, weil ich nicht will, dass mit Neuen
Atheisten und ihren Überzeugungen so umgegangen wird, wie er
es tut. Lennox betrachtet die Polemik der Neuen Atheisten als
Rechtfertigung für eine eigene Polemik. Man kann sie nicht
auf die Übersetzung schieben: Lennox ist dem Vernehmen nach
äußerst sprachgewandt, man muss annehmen, dass auch
die deutsche Übersetzung genau das sagt, was er sagen will.
Bereits der deutsche Titel (der englische ist noch schlimmer) und die
ersten Sätze des Buches sind schwer erträglich:
"Der
Atheismus ist in der westlichen Welt auf dem Vormarsch. Lautstark. Mit
einer konzertierten Aktion versucht man, die atheistischen Getreuen
zusammen zu bringen und sie zu ermutigen, sich ihres Atheismus nicht zu
schämen, sondern aufzustehen und als vereinte Armee zu
kämpfen. Der Feind ist Gott. Sie schießen auf Gott.
Ihr größtes Kaliber… war bisher Richard
Dawkins… Im Kielwasser von Dawkins schwimmt eine ganze
Phalanx von im Verhältnis zu ihm eher kleinkalibrigen, aber
ebenso schießwütigen Revolverhelden…"
Das ist nicht einmal sachlich korrekt. In der "westlichen
Welt" (sprich West-, Nord- und Mitteleuropa, seit kurzem
auch in den USA, nicht jedoch in Süd- und Osteuropa) ist die
religiöse Indifferenz auf dem Vormarsch oder, wenn man so
will, die Konfessionslosigkeit. Sämtliche
einschlägige Erhebungen zeigen, dass nur eine kleine
Minderheit dieser Menschen Neue Atheisten im Sinn von Richard Dawkins
oder überhaupt Atheisten sind, die explizite Gründe
für ihre Überzeugung haben.[1]
Die Mitgliederzahlen der
Giordano-Bruno-Stiftung bzw. der Humanistischen Union sind
überschaubar, ihr Anspruch, die mehr als 30% deutschen
Konfessionslosen zu vertreten, hat wenig Grundlage.
Was zutrifft ist,
dass die neuen Atheisten es seit einem Jahrzehnt verstehen, mediale
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dass sie dadurch in gewissem
Umfang politischen Einfluss ausüben. Man hat den Eindruck, die
öffentlichen, von Massenmedien transportieren und oft
militanten Debatten im angelsächsischen Raum seien die Welt
des Autors, dort sammele er seine Eindrücke. Die
nüchternen Ergebnisse der empirischen Religionssoziologie
sind jedoch andere. Aber selbst in Bezug auf die polemisch aufgeheizten
Kontroversen in den USA und Großbritannien sind die
Wild-West-Bilder des Autors unangemessen. Eine gute christliche
Apologetik hört zuerst und versteht, bevor sie unterscheidet
und urteilt, und sie verurteilt niemanden. Gott ist nicht der Feind der
Neuen Atheisten, denn Gott ist keines Menschenkindes Feind. Deshalb
sollten man als Christ keine Feindseligkeit verbreiten. Wenn man die
Neuen Atheisten denn verstehen will, kommt man darauf, dass ihr Feind
nicht Gott ist, sondern die Religion, die religiösen
Institutionen, besonders die Kirchen. Warum sollten sie eine
für sie illusionäre Entität
bekämpfen? Sie bekämpfen die Illusion in den
Köpfen, allenfalls diejenigen, die sie aus ihrer Sicht zum
Schaden der Menschen pflegen.
Lennox beschäftigt sich viel zu sehr damit, die Polemik von
Dawkins und Co. anzuprangern. Müssen Christen wirklich die
Behauptung widerlegen, dass religiöse Menschen in einem
"mentalen Infantilismus" gefangen seien (S.67-68),
oder dass Religion ein psychiatrisch zu diagnostizierendes Wahnsystem
sei (S. 58-60), oder darum streiten, ob Albert Einstein ein
religiöser Mensch war (S.62-64)? Müssen - anders
herum - Christen tatsächlich behaupten, dass Atheisten so
fröhlich und sorglos leben können wie Christen? Warum
müssen wir uns über drei Seiten (17-19) mit dem
Vorwurf beschäftigen, die "Brights" (eine
szientistische, studentische Gruppe) seien arrogant, weil sie sich
"bright" nennen, also schlau oder helle? All das
sind polemische Reaktionen auf Polemik - ein rundum
unfruchtbares
Wechselspiel. Sämtliche Beispiele stammen aus der Einleitung
und dem ersten Kapitel, und es sind bei weitem nicht alle.
Das
bedeutet nicht, dass Lennox keine eigenen Argumente gegen diejenigen
der Neuen Atheisten anführen könnte. Aber oft sind
die Argumente zwar im Kern bedenkenswert, in der polemischen Form, in
der er sie vorbringt, jedoch falsch. Ein Beispiel: Lennox betont in
Kapitel 1 mit Recht, dass die
Wahrheitstheorie Neuer Atheisten oft widersprüchlich sei:
Einerseits wird das menschliche Gehirn als Produkt von Naturprozessen
betrachtet, die es keineswegs auf die Erforschung abstrakter und
allgemeiner Wahrheiten hin optimierten, sondern auf
ökologische Effektivität. Auf der anderen Seite wird
aber von der Wissenschaft, ein Produkt eben dieses Gehirns,
zuversichtlich erwartet, sie liefere abstrakte und allgemeine
Wahrheiten mit Alleingeltung. Das ist so nicht haltbar, und
philosophisch gebildete Atheisten sind sich darüber im Klaren.
Eine ebenso berechtigte Kritik des Autors zielt auf den
Wissenschaftsglauben. Er betont, dass die Methodologie der
Naturwissenschaft auf Voraussetzungen beruht, die nicht selbst
naturwissenschaftlich sind, zum Beispiel auf der Prämisse,
dass Naturprozesse von regelmäßigen kausalen
Wechselwirkungen abhängen, die unsere Vernunft nachvollziehen
kann. Und der historische Forschungsprozess wird von metaphysischen
Leitideen beeinflusst, die aus der Weltanschauung der Forscher stammen.
Aber dann überzieht Lennox diese Argumente, indem er z.B.
unter Berufung auf Robert Spaemann behauptet, dass es, "wenn
wir Gott aus der Gleichung ausklammern, keine rationale Basis
für die Wissenschaft gibt" (S.72). Oder er sagt, dass
atheistische Naturwissenschaftler gezwungen seien, "um die eindeutigen
Hinweise auf die Existenz einer göttlichen Intelligenz hinter
der Natur zu umgehen… immer unplausibleren Kandidaten wie
der Masse, der Energie oder den Naturgesetzen kreative Kräfte
zuzuschreiben" (S.44). Das Argument setzt voraus, dass es eindeutige
(also redlicherweise nicht anzweifelbare) naturwissenschaftliche
Indizien für "göttliche Intelligenz" gäbe,
die atheistische Naturwissenschaftler nur mit Winkelzügen
entkräften könnten. Diese Voraussetzung trifft
schlicht nicht zu. Auch die Mehrheit der religiösen
Naturwissenschaftler und Theologen ist anderer Ansicht als Lennox.
Natürlich weiß er das und sollte deshalb auf billige
Polemik verzichten.
Grundsätzlich kann man die gelegentlichen
Begründungsdefizite
in atheistischen Wahrheitstheorien sehr wohl auflösen, zum
Beispiel durch einen konsequenten Agnostizismus. Allein in Deutschland
ließen sich
mehrere Autoren nennen, die diese Leistung erbringen. Und "eindeutige
Hinweise auf die Existenz einer
göttlichen Intelligenz" würden einen
physiko-teleologischen Gottesbeweis liefern, wenn es sie denn
gäbe. Aber anders als Lennox und Spaemann und das "intelligent
design movement" meinen, ist die
Naturwissenschaft – so kann man es ausdrücken
– ontologisch unterbestimmt. Weder der Atheismus noch der
Schöpfungsglaube können sich naturwissenschaftlich
legitimieren. Das liegt genau an dem Sachverhalt, den Lennox mit Recht
ins Feld führt: Dass die Naturwissenschaft ontologische
Prämissen voraussetzt, und dass diese nicht ein- sondern
mehrdeutig sind.
Nicht alle Argumente des Autors gehen derart daneben. In Kapitel 2
(S.90-106) liefert er Hinweise zur Gewaltgeschichte des Christentums
und zur angeblichen Gewaltneigung des Monotheismus. Der Vergleich mit
der Gewalttätigkeit moderner Ideologien fällt, wie er
mit Recht erläutert, zu deren Ungunsten aus. Dass Atheismus
nicht totalitär werden könne, wie Richard Dawkins
meint, ist geschichtlich widerlegt (S.112-124). Dass der christliche
Glaube nicht vernunft- und wissenschaftsfeindlich ist und historisch
niemals war, wird von Lennox ebenso erläutert. Auch dass die
Autoren des Neuen Atheismus wenig über Religion wissen, und
häufig grob verallgemeinern, trifft zu. In Wirklichkeit leben
Atheisten gut mit ihren christlichen Nachbarn und erwarten nicht, dass
diese Bomben in ihr Wohnzimmer werfen. Das gilt auch umgekehrt. Dass
die philosophische Begründung für eine solche
nachbarschaftliche Ethik bei den Atheisten weniger konsistent ist als
bei Christen – ein weiterer Punkt des Autors, den er in
Kapitel 4 ausführt – kann man immerhin diskutieren.
Seine Kritik an der evolutionären Ethik kann man
nachvollziehen.
Die Kapitel 5 bis 8 beschäftigen sich stärker mit
theologischen Fragen, zwar auch im Blick auf die Neuen Atheisten. Aber
häufig geht es Lennox um Positionen, die weit über
sie hinaus zur Geschichte neuzeitlicher Religionskritik
gehören. Fast ein ganzes Kapitel ist zum Beispiel der
Philosophie David Humes gewidmet. Kapitel 5 beschäftigt sich
vorwiegend mit dem alttestamentlichen Gottesbild, Kapitel 6 mit der
christlichen Soteriologie, Kapitel 7 mit den biblischen Wundern, und
Kapitel 8 schließlich mit der Bibel, ihrer Entstehung und
ihrer Beweiskraft. Theologinnen und Theologen bewegen sich dabei auf
vertrautem Grund, deshalb sollen diese Kapitel hier nur pauschal
erwähnt werden. Ob sich die Lektüre lohnen
würde, vermag der Rezensent (ein gelernter
Naturwissenschaftler) kaum zu beurteilen. Mein Verdacht ist: nein.
Ist es denn so schwierig, den Ertrag von dreihundert Jahren
abendländischer Geistesgeschichte zu akzeptieren, nach dem
die menschliche Vernunft keine Waage zur Verfügung hat, um
Plausibilität und Implausibilität existentieller
Grundfragen abzuwägen? Ist es plausibel, dass diese Welt aus
dem schaffenden Willen Gottes hervorgeht und in ihm ihren Grund hat?
Ist es plausibel, dass diese Welt ein System selbstlaufender Prozesse
ist, die in keiner Realität außerhalb ihrer selbst
gründet? Die Antwort hängt von Entscheidungen ab, die
nicht selbst plausibel oder unplausibel sind. Richard Dawkins ist nicht
deshalb Atheist, weil er das menschliche Weltwissen falsch beurteilt
hätte, und der Rezensent ist nicht deshalb Christ, weil er es
besser gemacht hätte. Würde man per impossibile
Richard Dawkins zu einem hervorragenden Philosophen und Theologen
machen, wäre das Ergebnis ein Atheist mit besseren
Argumenten, kein überzeugter Christ. Unser Glaube oder
Unglaube ist – immanent gesprochen – von unserer
Person, unserer Lebensgeschichte und unserer Umwelt abhängig,
er fällt uns zu. Wenn man das weiß, geht man
verständnisvoller mit Andersdenkenden um als John Lennox.
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Fußnoten
[1]
Eine kurze Übersicht findet sich bei Michael Utsch: Atheismus
– Studie differenzierter Motive für den Unglauben,
Materialdienst der EZW 11/2013 423-424.