Darwin
in Wissenschaft und Philosophie, Hirzel-Verlag, Stuttgart
(Im
Folgenden beziehen sich eingeklammerte Seitenzahlen – wenn
nicht anders angegeben – auf dieses Buch)
Mit
großer Spannung habe ich die Lieferung des jüngsten,
613 Seiten schweren VOLLMER-Buches "Im Lichte der
Evolution" erwartet, um mich sogleich davon
überraschen zu lassen, dass das Buch mit einem Pauluszitat
beginnt. Allerdings stellt das Geleitwort von Volker SOMMER mit dem
Rückgriff auf Paulus nur klar, dass das vorliegende Buch die
Welt nicht sub specie
aeternitatis, sondern sub
specie evolutionis
betrachte, "im Lichte der Evolution" eben. Der
Buchtitel greift damit auch für andere Disziplinen das
geflügelte Wort auf, das Theodosius DOBZHANSKY
(SOMMER nennt
ihn "VOLLMERs 'Titelhelden'")
für die Biologie geprägt hat: "Nichts in
der Biologie macht Sinn außer im Lichte der
Evolution" (11).
Das Geleitwort macht nicht nur die
Leitperspektive transparent, sondern ist auch deshalb aufschlussreich,
weil SOMMER den Autor des Buches, Gerhard VOLLMER, weltanschaulich als
Naturalisten einordnet. Als solcher habe er zwar nichts gegen eine
"gute Metaphysik", wohl aber gegen eine schlechte,
welche "die Lücken unserer Erkenntnis durch
göttliche Kräfte zu füllen" (11) versucht.
Damit allerdings rennt der Naturalist offene theologische
Türen ein. Ob man sich als Theologe auch sonst in dem Buch
wiederfinden kann, soll in diesem Beitrag angetestet werden.
Mehr als ein Antesten kann es
nicht sein, da ich mir in keiner Weise anmaßen kann, das Werk
in seiner Gesamtheit zu würdigen. VOLLMER ist es
nämlich gelungen, nicht weniger als 58 Disziplinen auf den
Einfluss evolutionären Denkens hin zu
überprüfen. Längst habe ich nicht alle 58
Kapitel lesen, geschweige denn beurteilen können. Das ist aber
auch nicht die Absicht des Buches. VOLLMER hält es
für erfreulich, wenn "man in dem Buch
schmökert wie in einem Lexikon, dabei von einem Thema zum
anderen gerät" (S. 16). Das allerdings habe ich mit
großem Vergnügen und mit großem Gewinn
getan, und kann dieses "Schmökern" nur
jedem weiterempfehlen.
Dass ich dabei mit besonderem
Interesse das Kapitel über "Evolutionäre
Theologie" gelesen habe, liegt auf der Hand. Gern gebe ich
die Leseerfahrung mit diesem kleinen Ausschnitt des Buches weiter.
Evolutionäre
Theologie
Kann es überhaupt eine evolutionäre Theologie geben?
Diese Frage zieht sich als roter Faden durch den gleichlautenden
Beitrag, der sich auf die Suche nach einem möglichen
Verständnis von evolutionärer Theologie macht.
1.
Evolutionäre
Veränderung von Religion und Theologie
Eine Bedeutungsmöglichkeit sieht VOLLMER darin, "dass
Religionen und Theologien sich
verändern" (312), was für VOLLMER
selbstverständlich ist, von den meisten Theologen jedoch
– zumindest für die eigene Religion –
abgelehnt werde. Den Grund sieht VOLLMER in der Abgeschlossenheit der
jeweiligen Heiligen Schriften. Dass es eine Auslegung dieser Schriften
gibt, erwähnt VOLLMER nur am Rande, ohne dies
evolutionär weiter fruchtbar zu machen. Genau diese Auslegung
im Sinne einer aktiven Tradition (im Gegensatz zu Traditionalismus)
wäre allerdings ein guter Einstieg für einen
evolutionären Aspekt der Theologie.
Doch auf den ersten Blick scheint VOLLMER Recht zu haben, wenn der
Fundamentaltheologe Hermann-Josef POTTMEYER davor warnt, dieses
Verständnis einer aktiven Tradition "als
fortschreitende Evolution" zu verstehen (POTTMEYER 1982, 96). POTTMEYER
meint damit eine "Fortschrittsgeschichte", in der
ständig
neue Glaubensbekundungen frühere Offenbarungsereignisse "als
überholt hinter sich lassen" (ebd.
97). So gesehen ist die Kontinuität zum Christusereignis vom
christlichen Selbstverständnis her in der Tat
unüberholbar.
Aber auch die Evolution ist ja nicht diskontinuierlich. Und Evolution
als "Höher- oder Weiterentwicklung" zu
verstehen, mag – so der Evolutionsbiologe Ulrich KUTSCHERA
– "in allgemeiner Bedeutung" zwar
zutreffen. Es gelte jedoch "in der Biologie: das graduelle
Andersartigwerden", und ein solcher "Prozess kann
(muss aber nicht) mit einer Komplexitätszunahme
(Höherentwicklug) … verbunden sein"
(KUTSCHERA 2006, 274f.). Sofern zum Evolutionsbegriff zwar der Aspekt
der Kontinuität ("graduell"), nicht aber
der Aspekt der Höherentwicklung wesentlich
dazugehört, könnte man auch bei der Geschichte der
christlichen Religion von Evolution sprechen. Da die christlich
geforderte "Kontinuität nicht an der Selbigkeit der
Bezeugungsformen" hängt, ergibt sich eine "Freiheit von der
Knechtschaft des Buchstabens –
die Freiheit, die Tradition unter Beachtung der Zeichen der Zeit unter
gewandelten geschichtlichen Bedingungen auch in neuen Formen und
Formulierungen lebendig zu vermitteln; sie lässt Wandel
zu" (POTTMEYER 1982, 96, in einem Sammelband, der den
programmatischen Titel "Kirche im Wandel"
trägt). Mehr noch: "Wahre Kontinuität
treibt selbst Innovation hervor, ohne die sie nicht bestehen
könnte", und "mit jeder Innovation stellen
sich die bisherigen Konkretionen als partikulare, vorläufige,
also nicht endgültige Phasen der Kontinuität
heraus" (ebd. 100f.).
Was VOLLMER als "erstaunliche Ausnahme"
für die Bahai-Religion reservieren möchte, ist also
auch für das Mainstream-Christentum nicht nur denkbar, sondern
geradezu Wesensvollzug: "Hier [VOLLMER meint die
Bahai-Religion] gibt es eine Entwicklung der eigenen Religion
also
nicht nur in der Vergangenheit, sondern – das ist das
Ungewöhnliche – auch in der Zukunft"
(VOLLMER 312). Das "hier" könnte man also
getrost auch auf die christliche Religion beziehen.
2.
Veränderung von Gottesvorstellungen
Die Suche nach evolutionären Elementen führt VOLLMER
zu wandelbaren Gottesvorstellungen.
Gott selbst jedoch sei in den
monotheistischen Religionen unveränderlich (313). VOLLMER
relativiert diesen Befund selbst, wenn er später auf die
Prozesstheologie zu sprechen kommt, bei der sich Gott sehr wohl
verändert (317). An dieser Stelle weist VOLLMER
zunächst einmal darauf hin, dass die Vorstellung von einem
unveränderlichen Gott zu rationalen Problemen führen
kann. Müsste Gott bei einem zweiten Schöpfungsanlauf
den Schöpfungsplan nicht ändern? Denn dass diese Welt
‚die beste aller möglichen Welten‘ ist,
sei "für eine rationale Theologie nicht
glaubhaft" (313). Die rationale Theologie eines Holm TETENS
kommt hier allerdings zu einem ganz anderen Ergebnis als VOLLMER
(TETENS; siehe auch
http://www.forum-grenzfragen.de/uebel-und-leid-theistische-vs-naturalistische-deutung/).
3.
Vereinbarkeit von Evolution und Theologie
Nachdem die ersten Möglichkeiten, von einer
Evolutionären Theologie zu sprechen, nicht so recht zum Zuge
kamen, bietet VOLLMER eine dritte Variante an. Mit evolutiver Theologie
könnte gemeint sein, dass eine Vereinbarkeit von
Evolutionslehre und Theologie erstellt würde. Mit diesem
Unterfangen gebe "man allerdings die wörtliche
Deutung der Heiligen Schrift auf" (314). Nun ist es aus
theologischer Perspektive nicht bedauerlich, sondern geradezu
gefordert, mit geeigneter Schriftauslegung über ihren
Literalsinn hinauszugelangen. Schon oben wurde über die
"Freiheit von der Knechtschaft des Buchstabens"
gesprochen. VOLLMER sieht darin offenbar die Gefahr des Dammbruchs:
"Hat man damit erst einmal begonnen, so ist es schwer, dem an
anderer Stelle Einhalt zu gebieten. Woher will man noch wissen, welche
Teile wörtlich zu nehmen sind und welche nicht?"
(314)
Nun wäre es ein Missverständnis, wollte man die
Vereinbarkeit mit den Profanwissenschaften durch materiale Ausgrenzung
einiger Bibelstellen vom wörtlichen Verständnis
vornehmen. Statt einer materialen
Beschränkung des
Wahrheitsanspruchs auf Teile der Schrift setzt – für
die katholische Kirche – das Zweite Vatikanische Konzil (Dei
Verbum 11) mit hoher Verbindlichkeit auf das formale Kriterium
der
Heilsperspektive, das durchgängig auf alle Teile der Schrift
angewandt wird. Dementsprechend sind Aussagen wahr nur in einer
bestimmten Hinsicht, nämlich insofern sie heilsrelevant sind,
nicht in naturwissenschaftlicher Hinsicht. Ein wörtliches
Schriftverständnis ist daher allenfalls bei Kreationisten ein
Hindernis. Ist damit der Weg frei für eine
Evolutionäre Theologie in VOLLMERs drittem
Verständnis? VOLLMER bleibt skeptisch.
a. Ansatz bei
Teilhard de Chardin?
Auch der katholische Theologe, Paläontologe und Anthropologe
Pierre TEILHARD de Chardin kann VOLLMER nicht
überzeugen. Zwar
habe er eine evolutionäre Theologie entworfen, er sei "damit
aber nicht einmal in der katholischen Kirche
erfolgreich" (314) gewesen. So bedauerlich und wahr dies zu
Lebzeiten TEILHARDs war, so falsch ist dies für die Zeit nach
TEILHARDs Tod. Zwar konnten seine Schriften erst posthum
veröffentlicht werden; dann aber haben sie ihre enorme
Breitenwirkung auch innerkatholisch innerhalb kürzester Zeit
entfaltet. So kann Heinrich FRIES bereits in den 1980er Jahren
urteilen: "Für die Theologie ist Teilhard insofern
von großer und weitausstrahlender Bedeutung geworden, als er
das … Gesetz der Entwicklung [gemeint ist die biologische
Evolution] zum Schlüsselwort seiner Theologie erhob. Er hat
damit die lange Zeit bestehende Kluft zwischen Naturwissenschaft und
christlichem Glauben überwunden, er hat die als Gegensatz
aufgefassten Prinzipien der Schöpfung und der Entwicklung
versöhnt" (FRIES 1987, 233). Auch kirchenamtlich hat
sich dies niedergeschlagen. So wurde eine Konstitution des bereits
erwähnten Zweiten Vaticanums "maßgeblich
vom Geist Teilhards geprägt" (ebd. 234).
Ex negativo belegen
die Traditionalisten die weitreichende Wirkung TEILHARDs, die sie
zähneknirschend einräumen
müssen. Da für sie das Zweite Vaticanum ohnehin ein
Werk des Satans ist, "nimmt es nicht Wunder, dass wir auch
den Ausbund des Neomodernismus, diesen TEILHARD, im Konzil rezipiert
sehen" (KRÄMER-BADONI, 120). Bedauerlicherweise
übe dieser "TEILHARDismus" in Frankreich
"den größten Einfluss aus, diese
dilettantische Lehre des jesuitischen Paläontologien TEILHARD
de Chardin, wonach 'wissenschaftlich' eine
unausweichliche organische und moralische Evolution den ganzen Kosmos
durchherrscht" (ebd.).
Nicht nur in Frankreich kommt TEILHARD zu Ehren. In Deutschland
beispielsweise hat sein Name zusammen mit dem auch von VOLLMER
erwähnten Merksatz "Gott macht, dass sich die Dinge
selber machen" Eingang gefunden in den noch heute aktuellen,
von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Katholischen
Erwachsenen-Katechismus (Katholischer Erwachsenen-Katechismus, S. 94).
Und im Darwinjahr 2009 ist für den Biologen und Theologen
Christian KUMMER TEILHARDs visionäres System "immer
noch konkurrenzlos geeignet …, das
Versöhnungspotenzial von christlichem Glauben und
wissenschaftlicher Weltsicht zum Vorschein zu bringen"
(KUMMER 2009, 10). Von Erfolglosigkeit also keine Spur.
Aber VOLLMER hat bei TEILHARD auch systematische Bedenken. So bereite
zunächst seine teleologische Deutung Probleme, die im
evolutionsbiologischen Kontext unter den Stichworten Teleologie vs.
Teleonomie hinlänglich bekannt sind. Aber auch theologisch ist
TEILHARDs Teleologie im Sinne eines überzogenen Optimismus
nicht unumstritten geblieben.
Offen bleibe bei TEILHARD "aber auch die Frage, was Gott
eigentlich tut, nachdem er die Evolution einmal in Gang gesetzt hat.
Ein solches deistisches
Bild, das Gott nur die Erschaffung der Welt
zuschreibt und ihn dann arbeitslos werden lässt, wird von den
monotheistischen Religionen meist entschieden abgelehnt"
(315). Mit der entschiedenen Ablehnung des Deismus hat VOLLMER
zweifellos Recht, nicht aber damit, dass TEILHARD einen solchen
vertritt. Eher ist das Gegenteil der Fall.
In TEILHARDs eigenen Worten geht es im Rückgriff auf Paulus um
"eine höhere Form des 'Pantheismus', ohne den vergiftenden Zug
einer
Vermanschung oder Zunichtemachung" (TEILHARD 305). Eine
Dissertation über TEILHARD bestätigt TEILHARDs
Selbsteinschätzung und spricht von einem "legitimen
christlichen Pantheismus" (BROCH 1977, 487), bei dem
"Schöpfung nicht als von außen
eingreifender Akt, … sondern im kontinuierlichen Prozess des
Werdens" (ebd. 114) verstanden wird. Deistische
Arbeitslosigkeit sieht jedenfalls anders aus, und ein christlich
legitimierter Pantheismus dürfte heutzutage das Etikett eines
mehrheitsfähigen Panentheismus tragen, wie eine
kürzlich erschienene Dissertation vermutet (HOFFMANN).
Vor dem Hintergrund eines Panentheismus lesen heute einige Autoren
TEILHARD zusammen mit WHITEHEAD: z. B.
http://huumanists.org/publications/journal/phenomenon-pierre-teilhard-de-chardin
oder
http://austinroberts13.blogspot.de/2011/11/teilhard-de-chardin-on-divine-immanence.html.
So wundert es nicht, dass TEILHARD auch bei VOLLMER wieder
erwähnt wird, wenn es um die Prozesstheologie geht.
Doch zuvor sieht VOLLMER TEILHARD beim Genetiker und Physiker Carsten
BRESCH rezipiert. Dieser spreche "zwar nicht von Gott, wohl
aber – spiegelbildlich zu Teilhards Punkt Omega –
von einem Alpha-Prinzip" (315). Über BRESCHs
Versuche, Evolution und Schöpfung zu vereinbaren, urteilt
VOLLMER: "Eine Evolutionäre Theologie im strengen
Sinne ist das natürlich noch nicht" (315). Und VOLLMERs Frage,
ob "Breschs teleologisches Modell
überhaupt theologisch"
(315) genannt werden kann,
ist durchaus berechtigt. So führte BRESCH bei einer
Akademiepräsentation zu seinem jüngsten Buch aus:
"Was steht hinter all dem Wunderbaren? Ein Plan, ein
intelligentes Design, Ein Schöpfer? Oder zielloses
Zufallsgeschehen? Meine Antwort ist: Beides!". Nur kommt BRESCH dann
(bewusst) nicht über eine Negative Theologie
hinaus, welche die Unbegreiflichkeit des Mysteriums betont, was das
Urteil VOLLMERs untermauert, es handle sich noch (!) nicht um eine
evolutionäre Theologie im strengen Sinne.
b. Ansatz bei der
Prozesstheologie?
"Evolutionären Charakter in einem weiten
Sinne" gesteht VOLLMER wie bereits angedeutet der
Prozesstheologie zu. Die Zuordnung zum Panentheismus und die
Nähe zu TEILHARD mit seiner Formel "Gott macht, dass
sich die Dinge selber machen", scheint mir so plausibel wie
den oben verlinkten Autoren. Die Prozesstheologie stütze sich
auf WHITEHEADs Prozessontologie und lebe von der Ablösung des
Substanzdenkens durch das Prozessdenken. Bedingt beziehe sich das
Prozesshafte auch auf Gott, "der sich zwar
verändert, aber zugleich ewig ist" (317). Der
WHITEHEAD-Fachmann Tobias MÜLLER bestätigt dies, wenn
er konkreter ausführt, wie "Gott in gewisser Weise
als prozessual zu bestimmen ist", indem "der
göttliche Prozess nicht so zu denken ist, dass Gott erst Gott
werden muss", sondern dass "die Prozesshaftigkeit
Gottes … seine Bezogenheit zu der Welt"
ausdrücke (MÜLLER 2011, 155f.)
c.
Evolutionswidriges Seelenverständnis der Großkirchen?
Während die Prozesstheologie in Europa erst langsam an
Einfluss gewinnt, seien immerhin "die großen
christlichen Kirchen inzwischen etwas evolutionsfreundlicher"
(317). Dabei überlasse die katholische Kirche den
"Körper gänzlich der Biologie und damit der
biologischen Evolution, den Geist allerdings nur sehr
zögerlich und die Seele natürlich überhaupt
nicht" (317). Die Seele müsse "also immer
noch – gänzlich evolutionswidrig – in
einem göttlichen Akt erzeugt und eingepflanzt
werden" (317f.). In einer Anmerkung (Anm. 909, S.555)
verweist VOLLMER in diesem Zusammenhang auf den Theologen und Biologen
Ulrich LÜKE. Es wäre wünschenswert gewesen,
hätte VOLLMER einmal bei LÜKE nachgelesen, wie man
– gänzliche evolutionskonform – den
theologischen (!) Begriff der Seele verstehen kann. LÜKE kennt
freilich das gängige Missverständnis, das auch bei
VOLLMER durchscheint: "Der Begriff Erschaffung der Seele
vermittelt zunächst den Eindruck, wie wenn hier nur Gott am
Werke wäre und der Mensch als Material diente, an dem etwas
geschieht, gewissermaßen wie der ‚Einbau von
bestimmten Extras‘ in der Automobilbranche"
(LÜKE 2016, 193).
Eine solche Vorstellung aber "erscheint absurd und ist
vielfach kritisiert worden" (ebd.). Die Seele ist eben "nicht die
Bestreitung der biologischen
Abkünftigkeit des Menschen, sondern deren (hin)aufhebende
Bejahung" (207). Damit ist – übrigens im
Rückgriff auf Joseph RATZINGER – gemeint, dass die
Seele "nichts anderes als die Beziehungsfähigkeit
des Menschen zur Wahrheit" (195), dass sie "als
Ausdruck der Gottunmittelbarkeit eines jeden Menschen zu
werten" (207) ist, als "Indiz für das
Gewollt- und Bejahtsein des einzelnen Menschen" (208). Dies
ist durchaus nicht "evolutionswidrig", wohl aber
mehr als das, was Gegenstand der Evolutionstheorie sein kann (und
will). Dass dies nicht LÜKEs Einzelmeinung ist, hat schon der
Hinweis auf den Präfekten der römischen
Glaubenskongregation, RATZINGER, gezeigt, und der Dogmatiker Alexandre
GANOCZY hat bereits 1987 darauf hingewiesen, dass ein solches
evolutionskonformes Leib-Seele-Verständnis "von den
meisten dogmatischen Forschern übernommen" (GANOCZY
1987, 220) wurde.
Wenn in diesem Sinne die Unsterblichkeit der Seele als bleibende
Gottunmittelbarkeit verstanden wird, muss auch dies nicht "ebenfalls
evolutionswidrig" verstanden werden.
Denn die Zäsur der Auferstehung "kann – da
Ausstieg aus der Raum-Zeit und Eingehen in ein nicht mehr
physikalisch-biologisch zu fassendes ewig-endgültiges Leben
– nicht
wieder ein Vorkommnis in Raum und Zeit sein. Sie
liegt derart jenseits der Naturzusammenhänge, dass sie diese
nicht außer Kraft setzt oder in ihnen eine Lücke
… hinterließe" (KESSLER 2014,184; Herv.
i. Orig.).
Als Naturalist wird man das mit Seele, gar mit Auferstehung Ausgesagte
zwar nicht nachvollziehen können, aber man müsste
nachvollziehen können, dass die Inhalte nicht evolutionswidrig
sind.
4.
Fazit
Nach diesen Befunden kann man ernsthaft fragen, ob das
abschließende Urteil VOLLMERs noch aufrechterhalten werden
kann: "Angesichts dieser Probleme ist es kein Wunder, dass es
eine anerkannte Evolutionäre Theologie bisher nicht
gibt" (318).Die Problemlage stellt sich bei näherem
Hinsehen viel entspannter dar als es sich bei VOLLMER liest. Sie ist so
entspannt, dass der interdisziplinär ausgewiesene Theologe
John F. Haught, Gutachter im bedeutendsten US-amerikanischen
Intelligent-Design-Prozess, anerkennend TEILHARDs Sichtweise in
Analogie zu DOBZHANSKY auf den Punkt bringt: "Nichts in der
Theologie (!) macht Sinn außer im Lichte der
Evolution"
(http://www.metanexus.net/essay/conversation-john-haught-evolution-intelligent-design-and-recent-dover-trial).
Näher kann man "VOLLMERs
‚Titelhelden‘" wohl kaum kommen.
Ausblick
Die Lektüre zur "Evolutionären
Theologie" hat Lust auf mehr gemacht. VOLLMERs Werk
hält zahlreiche Kapitel bereit, die interdisziplinär
interessant sind: "Evolutionäre
Geschichtswissenschaft (Big History)", "evolutionäre
Religionswissenschaft", "evolutionäre philosophische
Anthropologie" sind nur drei von vielen Beiträgen,
die zu weiteren Besprechungen anregen würden. Vielleicht wird
die ein oder andere Anregung ja demnächst an dieser Stelle
aufgegriffen.
Literatur
BROCH, Thomas: Das Problem der Freiheit im Werk von Pierre TEILHARD DE
CHARDIN. Mainz : Grünewald 1977.
ENXING, Julia: Gott im
Werden. www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/extras/rezensionen_details?k_beitrag=3925972
FRIES, Heinrich: Teilhard de Chardin. In: Wilfried HÄRLE,
Harald WAGNER (Hg.): Theologenlexikon. München : Beck 1987,
232-234.
Katholischer Erwachsenen-Katechismus, hg. von der Deutschen
Bischofskonferenz, Kevelaer : Butzon & Bercker u. a. 1985.
KESSLER, Hans: Was kommt nach dem Tod? Über Nahtoderfahrung,
Seele, Wiedergeburt, Auferstehung und ewiges Leben. Kevelaer : Butzon
& Bercker 2014.
KRÄMER-BADONI, Rudolf: Revolution in der Kirche –
Lefebvre und Rom, München : Herbig 1980.
KUMMER, Christian: Der Fall Darwin : Evolutionstheorie contra
Schöpfungsglaube. München : Pattloch 2009.
KUTSCHERA, Ulrich: Evolutionsbiologie, 2., aktualisierte und erweiterte
Auflage, Stuttgart : Eugen Ulmer 2006.
LÜKE, Ulrich: Das Säugetier von Gottes Gnaden :
Evolution, Bewusstsein, Freiheit. 3. Aufl. Freiburg : Herder 2016
MÜLLER, Tobias: Eine prozessphilosophische Grundlegung zum
Dialog von Naturwissenschaften und Religion. In: Patrick BECKER, Ursula
DIEWALD (Hg.): Zukunftsperspektiven im
theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog. Göttingen :
Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 138-160.
POTTMEYER, Hermann-Josef: Kontinuität und Innovation in der
Ekklesiologie des II. Vatikanums. In: Ders., Giuseppe ALBERIGO, Yves
CONGAR (Hgg.): Kirche im Wandel : Eine kritische Zwischenbilanz nach
dem Zweiten Vatikanum. Düsseldorf : Patmos 1982.
TEILHARD de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos. 4. Aufl.
München : DTV 1985.
TETENS, Holm: Gott denken : Ein Versuch über rationale
Theologie. Stuttgart : Reclam 2015.