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Diskussionsbeitrag

Unbewältigte Komplexität

Kreationismus, Rechtspopulismus und die 'Extended Evolutionary Synthesis'


Wort und Wissen

Zum Repertoire kreationistischer Argumente gehört die Behauptung, die Evolutionstheorie werde von wissenschaftlichen Experten selbst bezweifelt. Man gebe sich aus ideologischen Gründen nach außen hin jedoch sicherer, als es die "scientific community" sei. Bereits Ende 2014 publizierte WORT & WISSEN eine Meldung mit der rhetorischen Frage "Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?"1) unter Berufung auf einen weithin beachteten Artikel in der Fachzeitschrift "Nature": "Does evolutionary theory need a rethink?"2) Der Autor Reinhard JUNKER behauptet:

"Die Auseinandersetzung zeigt, dass es nicht die eine, alles erklärende Evolutionstheorie gibt, sondern eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die zum Teil miteinander konkurrieren oder gar einander ausschließen."

WORT & WISSEN versucht damit den Eindruck zu erwecken, die Evolutionstheoretiker würden ihren Erklärungsanspruch selbst einschränken. Deshalb könne man annehmen, ohne in Widerspruch zur Wissenschaft zu geraten, dass es keine Evolution gegeben habe, oder dass zumindest ein "intelligenter Designer" dafür nötig gewesen sei. In einer Meldung vom 23.12.16 "Entstehung evolutionärer Neuheiten – ungelöst!"3) heißt es:

"In populären Darstellungen über Evolution, in Schul- und Lehrbüchern oder auch in interdisziplinär-theologischen Abhandlungen wird schon seit Jahrzehnten behauptet, dass ein evolutionärer Ursprung der Lebewesen eine Tatsache sei. Darüber hinaus könne auch als geklärt gelten, dass und wie Evolution nach rein natürlichen Mechanismen – d. h. ohne zielgerichteten, schöpferischen Input – abgelaufen sei."

Die "scientific community", so behauptet WORT & WISSEN, stünde nicht hinter diesen Positionen. Nicht einmal die Studiengemeinschaft kann allerdings vorgeben, dass es in der wissenschaftlichen Literatur Zweifel am "evolutionären Ursprung der Lebewesen" gibt. Deshalb stützt sich ihre Behauptung auf eine angebliche Krise der kausalen Theorie, u.a. auf die Unerklärtheit von evolutionären Innovationen und Makro-Ereignissen. Damit wäre "Intelligent Design" (ID) in der Biologie wieder als vermeintlich alternative Erklärung für die Entwicklung des Lebens nötig oder möglich.

Bemängeln als Strategie

Eine solche Strategie des Bemängelns verfolgt WORT & WISSEN seit Jahrzehnten unabhängig vom Stand der naturwissenschaftlichen Diskussion. Was immer an Fortschritten erzielt wurde und wird, sei es in der Genomik, sei es in der Evolutionären Entwicklungsbiologie, sei es in der Ökologie: Immer behauptete WORT & WISSEN angebliche Defizite, die es weiterhin erlaubten, die Evolutionstheorie zu bezweifeln. Gelegentlich wird sogar behauptet, der Wissensfortschritt sei der "Freund" des Intelligent-Design-Ansatzes, weil er Design plausibler werden lasse. Dabei wird ignoriert, dass die Studiengemeinschaft durch den Wissensfortschritt ständig zu Zugeständnissen gezwungen wurde. (Beispiele sind die Übergangsform Tiktaalik zwischen Fischen und Amphibien, die Endosymbiontentheorie, die widerlegten Wahrscheinlichkeitsberechnungen zur Entstehung der Bakterienflagelle usw.).

Dabei wird erst gar nicht versucht, eigene, alternative Theorien vorzulegen. Geschieht dies ausnahmsweise doch einmal, scheitert der Versuch, wie im Fall der Stammesgeschichte des Menschen.4) Ihr Hauptprodukt, das "Kritische Lehrbuch", verfolgt diese Strategie ebenfalls, wenn auch zumindest in der letzten Auflage vorsichtiger als JUNKER in den zitierten Meldungen. Allerdings zeigen diese eine interessante Entwicklung: Die Studiengemeinschaft scheint den Kontakt zum theoretischen Fortschritt zu verlieren. Während man früher von einer interessengeleiteten Verzerrung sprechen konnte, findet man den Stand der Forschung in diesen Texten nicht mehr wieder, auch nicht in kreationistischer Interpretation.

Das wird im Folgenden zu begründen sein. Bisher hatte WORT & WISSEN innerhalb der evangelikalen Bewegung mit ihrer Strategie des Bemängelns Erfolg. Im Verbund mit rechtskatholischen Evolutionsgegnern, seit kurzem auch mit muslimischer Evolutionskritik, hat sich dort die Überzeugung etabliert, dass man den US-Kurzzeit-Kreationismus zwar nicht pauschal übernehmen könne, dass die Evolutionstheorie aber – je nach Ausprägung der Zweifel - "nur eine Theorie" sei, oder "nur eine Weltanschauung" oder "selbst ein Glaube", jedenfalls keine solide Naturwissenschaft. Man hofft dabei auf einen Gottesbeweis aus der Natur, oder zumindest auf den Schatten eines Beweises in Form wissenschaftlicher Plausibilität für "Intelligent Design".

Ob ein solcher handfester oder schattenhafter Gottesbeweis überhaupt wünschenswert ist, muss allerdings innerhalb jeder Glaubensgemeinschaft selbst diskutiert werden; dafür ist hier nicht der Ort. Die geistigen und gesellschaftlichen Kosten dieses Kreationismus sollten jedoch bedacht werden. In den USA ist er (ob "light" oder radikal) ein Ausdruck der gesellschaftlichen Spaltung zwischen "Liberals" und "Conservatives", die unter anderem dazu führte, dass mit dem Präsidenten Donald Trump eine rechtspopulistische Regierung an die Macht kam. Die Behauptung, dass die Evolution (wie auch der anthropogene Klimawandel und andere unliebsame Realitäten) nicht wissenschaftlich begründet sei, sondern dem Kampf gegen die Religion oder wahlweise gegen konservative Werte diene, gehört zu den "alternativen Fakten" ihres ideologischen Lagers. Tom KADEN hat dazu eine Untersuchung vorgelegt, die das vergiftete ideologische Klima in den USA eindrücklich beschreibt.5)

Wenn WORT & WISSEN sich dem öffnet und anschließt, so begibt sich die Studiengemeinschaft, ob absichtlich oder nicht, in die Gesellschaft des Rechtspopulismus. Es gibt Beispiele, dass sich publizistisch aktive Kreationisten in der AfD engagieren, und so zu Stützen des Rechtspopulismus werden. Allerdings durchlebt die evangelikale Bewegung in den USA wegen ihres politisch erfolgreichen Bündnisses mit dem Trump-Lager eine Glaubwürdigkeitskrise. "Post-evangelicalism" ist in kurzer Zeit zu einer festen Bezeichnung für den inneren Zerfall der Bewegung geworden. Man recherchiere im Internet zum Stichwort "toxic religion", und man wird feststellen, dass dieser Kampfbegriff nicht etwa von liberalen Atheisten geprägt wurde, sondern von religiösen Menschen, die sich von dem Bündnis zwischen Religion, Inhumanität und Unvernunft abwenden, das dem Rechtspopulismus mit zur Macht verholfen hat. Im Zug dieser Krise wird auch der Kreationismus kontrovers diskutiert. In einer neuen evangelikalen Publikation aus den USA heißt es dazu:

"Obwohl die Kontroverse immer noch auch außerhalb unserer theologischen Familie tobt, besonders mit den "neuen Atheisten" wie Richard Dawkins, finden die hitzigsten Debatten nun zwischen evangelikalen Christen statt – zwischen denen die meinen, dass man zwischen der Bibel und der Evolution wählen muss, und denen die begründen, dass Bibel und Evolution nicht in Spannung zueinander stehen." (Originalzitat s. Fußnote).6)

Von WORT & WISSEN erfährt man darüber nichts. Die Studiengemeinschaft redet sich und anderen ein, dass die Evolutionsbiologen ihr Theoriegebäude selbst bezweifelten, während in Wirklichkeit das kreationistische Kartenhaus wankt, das sie bewohnt.

Wer nichts weiß, kann alles erklären

Der deutsche Kreationismus ist anders als der Kreationismus in den USA zu schwach, um zum Wählerpotential der AfD oder gar zu Pegida-Demonstrationen beizutragen. Aber man sollte sich in der evangelikalen Bewegung dennoch fragen, ob es ausreicht, durch Bedeutungslosigkeit vor politischem Unheil bewahrt zu bleiben. Denn auch sonst sind die Nebenwirkungen erheblich: Der fruchtbare Dialog mit der Naturwissenschaft wird für den Kreationismus geopfert; eine konstruktive Deutung dessen, was die Naturwissenschaft an Erkenntnissen anzubieten hat, wird unmöglich.7) Und die Alternative, der man sich verschreibt, ist zumindest auf der Ebene der Naturwissenschaft eine Mogelpackung. Der "zielgerichtete, schöpferische Input" ist als biologische Erklärung evolutionärer Veränderungen nicht untersuchbar und nicht in eine Theorie integrierbar.8)

Die Behauptung, dass eine Innovation wie der aktive Flug der Fledermaus oder die Atmungskette der ersten Sauerstoff atmenden Einzeller zweckmäßige Planung (ID) zur Ursache habe, setzt keinerlei Kenntnisse des betrachteten Systems voraus. Man muss nichts über die Genetik, den Körperbau oder das Verhalten der baumbewohnenden Insektenfresser vor 70 Mio. Jahren wissen, die vom Gleitflug zum aktiven Flug der Fledertiere übergingen.9) Die Komplexität der Organismen und ihrer Interaktionen kann vollständig ignoriert werden. Es genügt, dass der Designer das System kannte und die entsprechenden Eingriffe vornahm. Wie diese aussahen, muss (und kann) nicht biologisch beschrieben werden. Mit anderen Worten: Die Erklärung: "Es war ID" geht immer. Sie erklärt alles, sie ist stets und auf jede Ursprungsfrage anwendbar, sie ist immer vollständig - und erklärt deshalb nichts.

Die Evolutionsbiologie hingegen benötigt für ihre kausalen Erklärungen von evolutionären Innovationen (die selten vollständig sind) Kenntnisse des evolvierenden Systems, von der Molekularbiologie über die Populationsgenetik und die Entwicklungsbiologie bis zur Ethologie und Ökologie. Man muss begründete Hypothesen über die Lebensweise der (vermutlich gleitfliegenden) Vorfahren der Fledermäuse haben, man muss die Anatomie der Flughäute mit stützendem Skelett kennen, man sollte etwas über ihre embryonale Entwicklung wissen und über ihre genetische Steuerung. Ein genomischer Vergleich zwischen den Fledertieren und ihren nächsten Verwandten liefert weitere Daten und so fort. Denn ein lebendiges System evolviert auf mehreren Ebenen, auf denen die Systembestandteile jeweils nach ihrer Eigengesetzlichkeit interagieren: molekular, zellulär, physiologisch, ethologisch, ökologisch.

Diese Ebenen sind durch aufsteigende und absteigende, kausale Wechselwirkungen miteinander verbunden. Die Charakteristika jeder Systemebene können in der Evolutionstheorie (und jeder anderen Theorie) nicht vollständig durch die Wechselwirkungen auf einer unteren Ebene erfasst werden, d.h. die Komplexität des Systems ist in diesem Sinn nicht beliebig reduzierbar.10) Zum Beispiel ist die biologische Spezies in der "Modern Synthesis" ein theoretisches Konzept, das nicht durch (polulations-) genetische oder physiologische Konzepte ersetzt werden kann.

Nach KAUFFMAN (2004)11) kann auch die Funktion des zellulären Genoms nicht allein von der Information her erschlossen werden, die seine DNA-Sequenzen tragen. Die Veränderung eines Ökosystems durch eine evolutionär bedingte Verhaltensänderung einer "keystone species" lässt sich ebenfalls nicht im Detail prognostizieren. Es ist offensichtlich, dass jede theoretische Erklärung einer evolutionären Innovation in einem derart komplexen System, außer in sehr einfachen Ausnahmefällen, nur angenähert modellhaft möglich ist, indem die Veränderungsprozesse auf wesentliche Schritte reduziert werden, allerdings auch reduziert werden können.

Die Selektionstheorie bildet dafür eine Rahmenbedingung, die schon aus logischen Gründen erfüllt sein muss.12) Aber zahlreiche andere Wechselwirkungen spielen mit, die jeweils eigene theoretische Beschreibungen und Erklärungen verlangen. Darüber wurde seit der Zeit der "Modern Synthesis" immer mehr bekannt. Genau daran entzündete sich die Diskussion um eine modernisierte "Extended Evolutionary Synthesis" (EES).

Wie ist der Fortschritt zu bewerten?

EES ist ausdrücklich als eine Erweiterung des biologischen Theoriegebäudes gemeint, nicht als Kritik oder Zurückweisung. JUNKERs Behauptung, sie bestehe aus einer "Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die zum Teil miteinander konkurrieren oder gar einander ausschließen" ist nicht wahr. Sie wird nicht einmal durch seinen eigenen Text gedeckt, denn die Konzepte, die er auflistet, schließen sich als Prozesse, die auf unterschiedlichen Systemebenen an evolutionären Innovationen beteiligt sind, offensichtlich nicht aus: Veränderungen der Ontogenese und ihrer Steuerung, das ökologische Konzept der Nischenkonstruktion, die Plastizität der Phänotypen als mögliche evolutionäre Präadaptation und natürlich die Epigenetik.

Seine Liste spiegelt außerdem die Theorieentwicklung nur teilweise wider. Zum Beispiel müsste das durch die moderne Genetik verbesserte Verständnis der neutralen Evolution erwähnt werden. Die brisanten Fortschritte in der mathematischen Modellierung von Gruppenselektion und "kin selection", die mit dem Namen Martin A. NOWAK verbunden sind, gehören ebenfalls dazu. Allerdings verläuft die Entwicklung so schnell und ist so vielschichtig, dass auch Fachleute Mühe haben, sie auf ihrem eigenen Spezialgebiet zu verfolgen, sei es die molekulare Genetik oder die Ökologie. Deshalb trifft es durchaus zu, dass man in der Fachliteratur der letzten Jahre reihenweise Belege für eine gewisse Desorientierung finden kann, und für ein Ringen um die Verständigung der Spezialisten auf übergreifende Theorieentwürfe.

Dass JUNKER diese Belege als Zerfallsanzeichen deutet, und dass er vielleicht deshalb kein Interesse an einem vollständigen Bild der Forschungslandschaft hat, ist seiner kreationistischen Perspektive geschuldet. Aber denen, die es wissen möchten, sollte man es sagen: Die Diskussion um die "Extended Evolutionary Synthesis" (EES) ist kein Zerfalls- und Krisengeschehen, sondern ein Ringen um die jeweilige Einordnung und das theoretische Gewicht der verschiedenen Teilkonzepte und der zahlreichen und bedeutenden wissenschaftlichen Fortschritte der letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Ein gutes Beispiel ist der Artikel von Eugene KOONIN: "Splendor and misery of adaptation".13) In ihm geht es um das oben erwähnte, vertiefte Verständnis der neutralen (nicht adaptiven, nicht selektiven) Evolution auf genetischer Grundlage.

KOONIN versteht die EES als eine "scientific revolution" oder als Paradigmenwechsel. Andere verstehen sie lediglich als Anbau an das Gebäude der "Modern Synthesis"; beide Sichtweisen haben etwas für sich. Eine Übersicht über diese Debatte findet sich beim Wissenschaftsjournalisten der New York Times, Carl ZIMMER, der m.E. sachgerecht von einem "Update" der Evolutionstheorie spricht.14)

Dass die Proponenten eines Paradigmenwechsels herausstellen, wie viele Einzelphänomene die alte "Modern Synthesis" angeblich oder wirklich nicht erklären konnte, gehört mit zum Spiel. Denn die Lösung für diese Probleme haben sie mit im Angebot, und das fördert die eigene Karriere. Wenn JUNKER den Eindruck erweckt, dass die "Revolutionären" grundsätzliche Zweifel an der Erklärungskraft der Evolutionstheorie hegen, unterstellt er ihnen das Gegenteil dessen, was diese beabsichtigen. Kevin LALAND, ein Wortführer der "Revolutionären", sieht in der aus seiner Sicht hoch innovativen EES sogar eine Möglichkeit, "Darwinian principles" über die Biologie hinaus auf Kultur, Gesellschaft Religion usw. auszudehnen, also einen generalisierten Darwinismus in den Sozialwissenschaften zu etablieren. Skepsis ist hier durchaus angebracht, aber LALAND will die Erklärungskraft der Evolutionstheorie nicht bestreiten, sondern erhöhen. Dass diese "Revolutionären" ID ausdrücklich ablehnen, erwähnt JUNKER zwar, allerdings unterstellt er dafür wiederum ideologische Motive.

Die "Mängelliste" ist nicht neu

Die Liste angeblicher Erklärungsmängel der Evolutionstheorie in der Meldung von 2016 hat, ein wenig überraschend, keinen Bezug zur Diskussion um EES. Sobald es konkret wird, bleibt die Strategie des Bemängelns bei den alten Themen der "Modern Synthesis". JUNKER behauptet zwar pauschal, die neuen Konzepte der EES brächten keinen Erklärungsfortschritt, behandelt sie aber nicht im Detail, wie er es vor Jahren z.B. bei der Evolutionären Entwicklungsbiologie (EvoDevo) noch zumindest versuchte. Warum bringt das Konzept der Nischenkonstruktion keine erweiterten Erklärungsmöglichkeiten? Warum nicht die neutrale Evolution auf molekulargenetischer Ebene? Das müsste an Beispielen erläutert, nicht nur pauschal behauptet werden. Die Fragen, die JUNKER tatsächlich aufwirft, lassen sich auf der Grundlage des mehr als ein halbes Jahrhundert alten Texts von Ernst MAYR (1960) erledigen: The Emergence Of Evolutionary Novelties.15) Zwei Beispiele aus JUNKERs Liste:

  • Burgess-Shale-Effekt: Weshalb entstanden die Baupläne der Vielzeller explosionsartig?

Die Antwort lautet "adaptive Radiation" und gehört zum Standard der "Modern Synthesis". Der Prozess ist in der Praxis vielfach nachweisbar und theoretisch sehr gut verstanden: Wenn ein Taxon eine neue Eigenschaft entwickelt, die einen selektiven Vorteil hat und dazu hin variabel ist, vervielfachen sich die Spezialisierungsmöglichkeiten in dieser Linie. Details möge man den Lehrbüchern entnehmen.

  • Homoplasie und Konvergenz: Weshalb entstehen ähnliche Gestalten unabhängig und wiederholt auch in nur weitläufig verwandten Abstammungslinien?

Man möge in beliebigen Lehrbücher oder meinethalben auch bei Wikipedia unter "Konvergenz" nachlesen.

Eine Ergänzung hierzu: Gemäß Evo-Devo sind Konvergenzen auch eine Konsequenz der Entwicklungsgenetik. Heute weiß man, dass die Genaktivierung in der Keimesentwicklung durch so genannte "Mastergene" koordiniert wird, sie fungieren gewissermaßen als "Hauptschalter". Durch Mutation eines solchen Schalters verändert sich das Zusammenspiel aller untergeordneten Gene gleichzeitig. Dies hat, wie der Wiener Biologe Rupert RIEDL richtig erkannt hatte, zur Konsequenz, dass Mutationen in vielen Fällen mehrere Merkmale, die zu funktionellen Einheiten organisiert sind, gleichzeitig umstrukturieren, während andererseits die Zahl möglicher Variationen eingeschränkt wird.16)

Wird diese Erkenntnis in die Darwinsche Abstammungstheorie implementiert, ergibt sich, so der Evolutionsbiologie Douglas FUTUYMA, die Prognose, dass solche Systeme "ein limitiertes, wiederholt auftretendes Variationsrepertoire" zeigen, woraus vor allem bei nahe verwandten Arten "Parallelentwicklungen" resultieren können, "die in rekapitulierender Weise die ursprünglichen Grundzüge des Entwicklungsprogramms enthüllen".17)

Es könnte sein, dass die Jahrzehnte verfolgte Strategie von Wort und Wissen, für ihre Klientel als die Autorität aufzutreten um Zweifel an der Naturwissenschaft zu rechtfertigen, an ein Ende kommt. Auf der einen Seite könnte der Bedarf an einer solchen Autorität schwinden, falls die Attraktivität des Kreationismus schwindet. Auf der anderen Seite hat die Studiengemeinschaft nicht die wissenschaftlichen Ressourcen, der Entwicklung zu folgen. Im Moment scheint sie auf dem theoretischen Stand der 1970iger und 1980iger Jahre stehen zu bleiben, den die Forschung rasant hinter sich lässt. Die Folgen werden abzuwarten sein.




Fußnoten

[1] Am 09.12.14: Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?, Zugriff: März 2017.

[2] LALAND, K; ULLER, T.; FELDMAN, M.; STERELNY, K.; MÜLLER, G. B.; MOCZEK, A.; JABLONKA, E.; ODLING-SMEE, J.; WRAY, G. A.; HOEKSTRA, H. E.; FUTUYMA, D. J.; LENSKI, R. E.; MACKAY, T. F. C.; SCHLUTER, D. & STRASSMANN, J. E. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? Nature 514, 161-164.

[5] KADEN, T. (2015) Kreationismus und Antikreationismus in den Vereinigten Staaten von Amerika: Eine konfliktsoziologische Untersuchung. In: BREUER, S.; OTTO, E. & TREIBER, H. (Eds.). Studies in cultural and social sciences 13, Wiesbaden.

[6] Aus dem Vorwort von VENEMA, D.R. & McKNIGHT, S. (2017) Adam and the genome - Reading scripture after Genetic Science. Grand Rapids:

"Though the controversy still rages with those outside our theological family, particularly the 'New Atheists' such as Richard Dawkins, the most heated discussions are now taking place among evangelical Christians—between those who believe that one must make a choice between the Bible and evolution, and those who argue that the Bible and evolution are not in tension with each other... The evidence provided by the genome, added to the mounting evidence of hominid fossils, further testifies to the persuasiveness of the theory presented by Darwin in the mid-nineteenth century." (Übersetzung vom Autor)

[7] Siehe: HEMMINGER, H. (2017) Echte Wissenschaft ist nicht dazu da, dass man sie vergisst. Theologische Beiträge 17-1 48, 39-48.

[8] Vertreter von ID wenden dem gegenüber ein, dass gerade die Kenntnis der Komplexität des Systems den Schluss auf ID rechtfertige. Dieses Argument ändert nichts daran, dass ein solcher Schluss nicht von der Beschreibung von Komplexität abhängt, sondern immer in gleicher Form möglich ist. Darüber hinaus trifft zu, dass man nach G. TOEPFER für das Feststellen von Komplexität nur deskriptives, nicht jedoch kausal erklärendes Wissen benötigt. Die teleologische Deutung sensu ID

"führt zu den immer gleichen ‚ultimaten Zwecken‘ der Selbsterhaltung und Fortpflanzung; diese können jedoch in einer Vielzahl von kausalen Wegen verwirklicht werden. Die teleologische Betrachtung führt daher das Fragen eher an ein Ende, während die kausale zu immer weiteren Fragen animiert." - TOEPFER, G. (2005) Teleologie. In: KROHS, U. & TOEPFER, G. (Hg.) Philosophie der Biologie. Eine Einführung. Suhrkamp, Frankfurt/Main, 36-52 (S. 38).

[10] Ob diese systemtheoretische Einschränkung grundsätzlicher (starke Emergenz) oder nur praktischer (schwache Emergenz) Art ist, braucht hier nicht geklärt zu werden.

[11] KAUFFMAN, S. (2004) Prolegomenon to a general biology. In: DEMBSKI, W.A. & RUSE, M. (Eds.) Debating Design: From Darwin to DNA. Cambridge University Press, MA.

[12] Eine Begründung dafür wäre es, die Konzepte relativer und absoluter Fitness einzuführen, was den Rahmen dieses Essays sprengen würde.

[13] KOONIN, E.V. (2016) Splendor and misery of adaptation, or the importance of neutral null for understanding evolution. BMC Biology 14, 114, Jan 2017.

[14] ZIMMER, C. (2016). Scientists seek to update evolution, Zugriff Februar 2017.

[15] TAX, S. (Ed.) Evolution after Darwin. Vol. 1. Chicago University Press, Chicago, 349-380.

[16] Siehe: RIEDL, R. (2003) Riedls Kulturgeschichte der Evolutionstheorie. Die Helden, ihre Irrungen und Einsichten. Springer-Verlag, Berlin, S. 202-206.

[17] FUTUYMA, D. J. (1990) Evolutionsbiologie. Birkhäuser-Verlag, Basel, S. 497f.

Autor: Hansjörg Hemminger



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