Ist
die wissenschaftsphilosophische Kritik an der Grundtypenbiologie
verfehlt?
Gemäß
dem Grundtypmodell sollen alle
Lebewesen durch
Mikroevolution aus so genannten "polyvalenten Stammformen"
hervorgegangen sein, die im Kreationismus als das Ergebnis
göttlicher Schöpfung gedeutet werden. Diese
Modellvorstellung ist aus Sicht des Kreationismus Kernbestandteil
einer wissenschaftlichen "Schöpfungsforschung"; ihre
Ergebnisse sollen zugleich dem biblischen
Schöpfungsparadigma Plausibilität verleihen. Ein in
der Wissenschaftszeitschrift Skeptikererschienener
Artikel
hinterfragt
diese Sichtweise aus wissenschaftstheoretischer Sicht (NEUKAMM
2005). Es wird darin sehr ausführlich erörtert, warum
es auf der Basis dieses Modells keine
wissenschaftliche Schöpfungsforschung geben kann. An diesem
Beitrag übt der Geschäftsführer der
evangelikalen
Studiengemeinschaft Wort-und-Wissen (W+W) scharfe Kritik (JUNKER 2006).
Der grundtypkritische Beitrag
weise "schwerwiegende Mängel auf" und unterstelle den
Protagonisten des Grundtypmodells Positionen, die sie nicht vertreten.
Insgesamt wird die Kritik an der Grundtypenbiologie als verfehlt
dargestellt und zurück gewiesen. Was ist dran an diesen
Behauptungen? Sehen wir uns die Kritikpunkte im
Einzelnen an.
1.
Falschaussagen und das angebliche Weglassen relevanter Publikationen
Eine von JUNKERs Unterstellungen
lautet, in dem betreffenden Skeptiker-Artikel
seien eine Reihe relevanter Arbeiten nicht beachtet
worden. NEUKAMM thematisiere z.B.
"...die
Frage, ob mit dem
Grundtypmodell 'Schöpfung' getestet werde - eine Frage, der
sich
der
genannte Genesisnet-Artikel… explizit widmet. Die darin
erläuterten Argumente greift NEUKAMM jedoch … nicht
auf.
Damit bleibt er hinter dem erreichten Diskussionsstand
zurück."
(HTML-Version).
Entgegen JUNKER wurden dessen
Ausführungen
zu diesem Thema, beispielsweise eine Erwiderung auf den Text des
Biologen
G. KORTHOF,
immer dort berücksichtigt,
wo dies für die Argumentation erforderlich war (beispielsweise
auf den Seiten 148-149
gleich drei mal)!
Zudem wurden im Skeptiker-Artikel
die
meisten der von JUNKER ins Feld geführten Einwände
bereits
vorweggenommen. So
heißt es bei JUNKER beispielsweise:
"Wird
'Schöpfung'
…
dahingehend konkretisiert, dass eine getrennte Entstehung polyvalenter
Stammformen vorausgesetzt wird, dann können Befunde ermittelt
werden, die diese Vorgabe stützen oder eher unplausibel
erscheinen
lassen." (HTML-Version).
Auch im Skeptiker-Artikel
wird dargelegt, dass
Theorien
konkretisiert werden müssen (S. 146). Im Detail wird dort
gezeigt,
dass sämtliche Annahmen zur Konkretisierung von
"Schöpfung"
nicht empirisch begründbar sind, sondern als
Prämisse
genau das voraussetzen,
was doch gerade plausibel gemacht werden soll, nämlich eine
wie auch immer geartete Schöpfungsannahme. Dass
JUNKERs Plausibilitätsschluss kein gültiges
Argument
ist, sondern ein selbstreferenzieller Zirkelschluss, werden
wir
in Abschnitt 3 nachweisen.
2. Die
Vermischung prüfbarer Hypothesen mit Glaubensaussagen
JUNKER erhebt im Weiteren
den Vorwurf, die prüfbaren
Hypothesen des Grundtypmodells
seien im Skeptiker-Artikel
nicht hinreichend von den Glaubensvorgaben
des Schöpfungsparadigmas
unterschieden worden. Die
Studiengemeinschaft
W+W würde beide Ebenen sauber trennen, denn im Rahmen der
Grundtypenbiologie gehe es nur um biologische Daten und
prüfbare
Fragestellungen: Gibt es abgrenzbare Grundtypen? Erst in einem darauf
aufbauenden Schritt werde der Versuch unternommen, diese Befunde durch
eine Grenzüberschreitung
im Rahmen des biblischen
Schöpfungsparadigmas zu interpretieren. Da die im kritischen
Beitrag
als
Hilfshypothesen des Grundtypmodells deklarierten Zusatzannahmen (z.B.
die Annahme, Gott habe polyvalente Stammformen erschaffen und diese
nach einem "Baukastenprinzip" konstruiert) in Wahrheit "allgemein
gehaltene Grundpostulate im Rahmen des Schöpfungsparadigmas"
seien, sei die Kritik hinfällig.
Diese Erwiderung
ist aus mehreren Gründen unbrauchbar:
JUNKER hat das Argument aus dem Skeptiker
falsch übernommen,
denn
er übersieht, dass sich meine Kritik nicht auf die
prüfbaren
Aussagen des Grundtypmodells,
sondern auf die unprüfbaren
Zusatzannahmen des Schöpfungsparadigmas
bezieht; eine
Zielsetzung,
die auch aus dem Untertitel des Artikels ("Weshalb es keine
empirisch-wissenschaftliche Schöpfungsforschung geben kann")
hervorgeht. Es wird ausdrücklich eingeräumt, dass
eine Grundtypforschung in gewissem Umfang tatsächlich
möglich
sein mag!
Die von JUNKER vorgenommene Differenzierung
zwischen den prüfbaren
Hypothesen des Grundtypmodells und den Glaubensvorgaben
des Schöpfungsparadigmas wird automatisch genau dann
Makulatur, wenn
das Schöpfungsparadigma als Deutungsrahmen herangezogen wird. Denn die religiösen
Glaubensvorgaben müssen mit dem
Grundtypmodell
logisch verknüpftwerden, sonst
könnte gar
kein Zusammenhang
zwischen dem Grundtypmodell und dem Schöpfungsparadigma
hergestellt werden! Die Aussage, das
Schöpfungsparadigma würde durch den Nachweis
polyvalenter
Stammformen "auf Plausibilität getestet", ist das logische
Resultat einer solchen Vermischung. Wären, wie JUNKER
behauptet, die Glaubensannahmen des
Schöpfungsparadigmas nicht
Bestandteil des Grundtypmodells, könnte sich im Fall
einer
erfolgreichen Grundtypforschung auch nicht das
schöpfungstheoretische Gesamtparadigma bewähren, denn
in
diesem Fall hätte sich eben nur das Teilparadigma
(Grundtypmodell)
bewährt, welches nicht in notwendiger Beziehung zum
Schöpfungsparadigma steht.
JUNKER
übersieht, dass die Annahme,
alle Lebensformen starteten
"ihre Existenz als polyvalente, abgegrenzte Grundtypen" (S.
2), mit der Grundaussage der Evolutionsbiologie identisch
wäre,
würde man das Grundtypmodell nicht (implizit oder
explizit)
mit theologische Zusatzannahmen verknüpfen. Es kann gar nicht
anders sein, denn der empirische Gehalt des
Grundtypmodells übersteigt den empirischen Gehalt
evolutionärer Modelle nicht! Daraus folgt, dass das
Grundtypmodell - wenn es
überhaupt einen Wert für die Kreationisten haben soll
- eben
nur ein
abhängiges Modell des (biblischen)
Schöpfungsparadigmas sein
kann, so wie
evolutionäre Modelle immer nur abhängige Modelle der
Evolutionstheorie
sein können.
Merke: Die
Vermischung
zwischen
unprüfbaren
Glaubensvorgaben und
wissenschaftlichen Hypothesen kommt immer dann zustande, wenn die
wissenschaftlichen Hypothesen im Rahmen der Glaubensvorgaben gedeutet
oder gar als empirische Stütze gewertet
werden.
3. Die
zirkelschlüssige Begründung des
Schöpfungsparadigmas
Wie bewerkstelligt JUNKER den
Kraftschluss
zwischen der postulierten Existenz polyvalenter Stammformen und dem
(biblischen) Schöpfungsparadigma? Er stellt hierzu
fest,
"...dass
sich die Existenz
abgrenzbarer Grundtypen
aus dem biblischen Schöpfungsparadigma ergibt (jedenfalls dass
ihre Existenz mindestens sehr nahe liegt). Ein
auf jeder taxonomischen Ebene gleichmäßiges
Formenkontinuum würde dazu nicht passen. Wenn also das
Grundtypkonzept getestet wird, wird damit auch das
Schöpfungsparadigma auf Plausibilität getestet."
(PDF-Version, S.
4).
Warum man mit dieser Logik beliebig unsinnige Sachverhalte "plausibel"
kann, macht ein Vergleich deutlich: Nehmen wir an, in einem
Science-Fiction-Roman von Isaac ASIMOV
stünde geschrieben, rote Riesensterne seien durch einen
Dämon
erschaffen worden. In Anlehnung an JUNKER müsste nun wie folgt
argumentiert werden:
"Die
Existenz roter Riesensterne
ergibt sich aus
dem Roman von ASIMOV (jedenfalls liegt ihre Existenz
mindestens sehr
nahe). Die Existenz von durchweg weißen, gelben oder blauen
Sternen würde dazu nicht passen. Wenn also die Existenz roter
Riesensterne getestet
wird, wird damit auch ASIMOVs Dämonen-These auf
Plausibilität
getestet."
Jeder erkennt, dass dieser Schluss
ungültig ist, da es sich
bei Dämonen um völlig unbekannte Wesen und
Wirkmechanismen handelt, sodass auch keine objektive Grenzen für
ihr mutmaßliches Handeln angegeben werden kann.
Mit solch "omipotenten" Wesen könnte man jeden nur denkbaren
Befund "erklären" - auch die Existenz blauer oder violetter
Sterne,
oder Schwarzer Löcher, für deren
Gefräßigkeit man
wiederum den Appetit der Dämonen verantwortlich
machen
könnte - der Spekulation sind hier keine Grenzen
gesetzt! Es
ist daher ohne
Weiteres
einzusehen, dass die Existenz roter Riesensterne nicht der
Annahme Plausibilität verleiht, ein Dämon
sei ihr
Urheber
gewesen.
Abb.
1:
Besteht zwischen dem Aufblähen eines Sterns zu einem "roten
Riesen" und dem unheilvollen Wirken eines Dämons ein
Zusammenhang?
Nur, wenn man die Existenz dessen bereits voraussetzt, was es zu
belegen gilt!
In derselben Situation befindet
sich das
Schöpfungsparadigma, dem durch das Grundtypmodell
Plausibilität
verliehen werden soll; es liegt dieselbe zirkelschlüssige
Begründung vor. Denn woher wollen die
Schöpfungsvertreter denn wissen,
dass für das göttliche Wirken exakt die gegeneinander
abgrenzbaren Arten spezifisch sind? Dass selbiges in der Bibel steht,
ist kein logisch-empirisches Argument, sondern Glaube;
hier gälte es, gute empirische Gründe für
die
historische Glaubwürdigkeit des Bibelberichts einzufordern,
statt
diesen einfach unreflektiert als "wahr" vorauszusetzen.Dieser
Zusammenhang erschließt sich den
Protagonisten
des
Grundtypmodells aufgrund weltanschaulicher Vorurteile aber nicht, weil
sie sonst entweder von ihren Glaubensvorgaben oder von ihrem Ziel
abrücken müssten,
ihr Schöpfungsmodell wissenschaftlich
zu begründen.
Formal betrachtet ist der
Versuch,
Schöpfung durch empirische Ergebnisse der Grundtypforschung
plausibel zu machen, stets das Ergebnis eines
Zirkelschlusses: Die
Hypothese (A),
Gott habe polyvalente, abgrenzbare Grundtypen
erschaffen, lässt sich mithilfe der Bibel (B) plausibel
begründen. Wodurch aber wird den biblischen Aussagen
Plausibilität verliehen? Durch das Grundtypmodell, genauer:
durch
die für den Kraftschluss zwischen Empirie und
Schöpfung
erforderliche
Hilfshypothese, polyvalente Grundtypen seien (von Gott) erschaffen
worden! Man
sieht hier also, dass Hypothese A durch Hypothese B begründet
wird, die wiederum die Richtigkeit von Hypothese A annimmt und damit
das voraussetzt, was begründet werden soll!
4. Weshalb
sind bestimmte Zusatzannahmen des Grundtypmodells willkürlich?
JUNKER behauptet, es sei
"geradezu
abwegig" wenn unterstellt wird,
die Postulate der Grundtypenbiologie seien willkürlich
gewählt, denn
"...die
Wahl der Postulate [ist]
letztlich durch
das
biblisch orientierte Schöpfungsparadigma begründet
und alles
andere als willkürlich" (PDF-Version, S.
3).
Mit "willkürlich" ist gemeint, dass die betreffenden
Postulate, die auf das vermeintliche Schöpfungshandeln Bezug
nehmen, nicht empirisch begründbar
sind, sondern im Nachhinein stets so konstruiert werden, dass aus dem
Schöpfungsparadigma das folgt, was man beobachtet, um
das zu rechtfertigen, was die Kreationisten sowieso schon (a priori) glauben.
Beispiel: Die Annahme, die
Evolvierbarkeit des Lebens sei Ausdruck einer "programmierten
Variabilität", ist weder empirisch belegt, noch findet sie
ihnen Niederschlag in der Bibel, im Gegenteil:
Über
eine
Veränderlichkeit der Arten findet man in der Bibel
überhaupt
nichts! Folglich
ist die Annahme einer "programmierten Variabilität" eine
unprüfbare Ad-hoc-Annahme,
die nur dazu
dient, das biblisch inspirierte
Grundtypmodell mit der Evolvierbarkeit des Lebens in
Einklang zu bringen.
Die
Annahme,
die Variabilität sei "programmiert", ist also eine
frei erfundene These, die ausschließlich
im kreationistischen
Schöpfungsparadigma Sinn ergibt. Auch die Annahme,
die Variabilität sei auf Grundtypebene "begrenzt", ist
nicht evident,
sondern ein metaphysisches Postulat, das die raumzeitlichen
Beschränkungen
menschlicher Züchtungsexperimente
fälschlicherweise auf die Natur und auf erdgeschichtliche
Zeiträume extrapoliert, damit man weiterhin an die
erschaffenen Stammarten glauben kann.
Thomas JUNKER moniert, wie
willkürlich auch im
"evolutionskritischen
Lehrbuch" von JUNKER & SCHERER (2006) die zur
Stützung ihres religiösen Paradigmas ersonnene
Annahme der programmierten Variabilität mit empirischen Daten
vermischt und vermengt wird. Er schreibt:
"Im
Kapitel über die Entstehung der Menschheit findet sich
folgender nicht als 'Grenzüberschreitung' gekennzeichneter
Satz: 'Durch programmierte Variabilität kann anscheinend eine
enorme Variationsbreite erreicht werden' (EKL 2006, S. 287). Bei der
'programmierten Variabilität’
handelt es sich aber um eine Idee, die nur im kreationistischen
Weltbild Sinn ergibt. Es geht hier um die oben beschriebene, bizarre
Vorstellung, dass die ersten Individuen eines Grundtyps (z.B. Adam und
Eva) die gesamte jemals mögliche genetische
Variabilität latent in sich getragen haben. Wenn dies keine
'Grenzüberschreitung' ist, was dann?"
Willkürlich ist auch
JUNKERs
Versuch, die aus Sicht des Grundtypmodells nur schwer
verständliche Tatsache wegzuerklären,
dass die Arten über
alle Grundtypen hinweg (!) einander
abgestuft ähnlich sind, und dass die Fossilien
anatomisch wie morphologisch zwischen den Grundtypen vermitteln. Diese
Befunde sind eine klare Anomalie für das
Modell, denn wenn Mutation und Selektion lediglich innerhalb
von
Grundtypen für die abgestuften Ähnlichkeiten der
Arten
verantwortlich sind, warum setzen sich dann diese abgestuften
Ähnlichkeiten über die Grundtyp-Grenzen
hinaus immer weiter fort? Dies spricht dafür, dass
genetisch
isolierte Grundtypen erdgeschichtlich betrachtet gar nicht
existieren, bzw. dafür, dass (fossile)
Übergangsformen zwischen den heutigen
Grundtypen "Fortpflanzungs-Brücken"
schlugen. Streng genommen gibt es dann nur noch einen einzigen
"Grundtyp", den des Lebens selbst!
Aus Sicht
der Evolutionstheorie ist die abgestufte Ähnlichkeit
der
Arten zwingend, denn die Kenntnis der Mechanismen
der Vererbung,
Variation und Selektion lässt keinen anderen Schluss zu als
den, dass Organismen ihr stammesgeschichtliches Erbe "mitschleppen"
müssen und es nur graduell modifizieren können. Man
spricht
auch von Entwicklungszwängen
oder "developmental constraints", um auszudrücken, dass in der
Evolution keine beliebigen
Merkmalsänderungen, Merkmalsverteilungen oder
Entwicklungssprünge möglich
sind.
Die vermeintlich unüberwindlichen Grenzen zwischen den
Grundtypen
erscheinen in den Stammbäumen (bzw. Kladogrammen) nur noch in
Form
abgestufter Ähnlichkeiten, zwischen denen die heute bekannten
Fossilien vermitteln.
Wie
aber will man aus Sicht eines
vorausplanenden "Programmierers", der jederzeit ans Zeichenbrett
zurück kehren und die Grundtypen grundlegend neu gestalten
könnte, erklären, dass er nicht anders konnte, als in
allen
Entwürfen die Kernprozesse und Strukturen früherer
Entwürfe "mitzuschleppen"? Aus Sicht des
Grundtypmodells gibt es keine Erklärung!
Um dieses Problem
wegzudiskutieren, behauptet JUNKER ad
hoc, dass sich aus
entwicklungsbiologischen
Zwängen auch bestimmte Anforderungen an das
"göttliche
Design"
ableiten ließen. So heißt es z.B. bei
JUNKER,
"...dass
viele
Ähnlichkeiten
funktional bedingt sind und aus diesem Grund [wohlgemerkt: aus Sicht
des schöpfungstheoretisch inspirierten Grundtypmodells!]
auftreten müssen…".
(PDF-Version, S. 7).
An anderer Stelle bemerkt JUNKER,
die "funktionelle(n) Zwänge" würden
"...auch
im Rahmen
des
Schöpfungsparadigmas gelten, denn funktionelle Zwänge
gelten
notwendigerweise für alle Paradigmen". (R. JUNKER 2007,
Evolutionsparadigma und Naturwissenschaft,
http://genesisnet.info/index.php?Sprache=de&Artikel=40464&l=2)
Notwendigerweise!?
Dieses Adverb ist in Bezug auf eine allmächtige
Entität wie eine Gottheit schon ein Widerspruch in
sich: Sprechen wir vom Gott der Bibel, gibt es nicht den
geringsten Grund anzunehmen, dass dieser in seiner grenzenlosen
Phantasie und Allmacht immerzu ein begrenztes
(wenngleich erstaunlich vielfältiges) Reservoir an
Neuerungen recyceln musste. Außerdem
lässt sich mit dem Schlagwort "Funktionalität" zwar
die
Existenz bauplangleicher Merkmale erklären (Konvergenz), nicht
aber das im Ganzen betrachtet sich allmähliche Angleichen der
Erscheinungsformen von Fossilien an die heutigen Arten, wie sie
beispielsweise bei den Übergangsformen der Wale sehr
schön zu beobachten ist.
Fazit:
Es
gibt kein empirisches
Wissen, aus dem man ableiten könnte, dass ein
Schöpfer genau jene funktionalen Zwänge
berücksichtigte, geschweige denn zu berücksichtigen
hatte, die aus
evolutionärer Sicht eine abgestuften
Formähnlichkeit über
die Grundtypen
hinaus erzwingen. Die
Annahme, die entsprechenden
funktionalen Zwänge gälten auch für das
Schöpfungsparadigma, ist eine willkürliche
Behauptung -
auch und gerade aus Sicht eines "anonymen Designs",
aus dem
man nicht Spezifisches folgern kann.
5.
Konvergenz, genetische Plastizität und gegeneinander
abgrenzbare Baupläne
Entgegen JUNKERs Behauptung
lässt sich nicht nur die
abgestufte Ähnlichkeit zwischen den Arten, sondern auch das
Phänomen der Konvergenz,
der nicht mit einer eindeutigen Abstammungshypothese zu
vereinbarenden Merkmalsverteilung, aus der Evolutionstheorie folgern,
sofern sie mit
entwicklungsbiologischem Zusatzwissen angereichert wird. Dies wird im Skeptiker-Artikel anhand
von Beispielen erläutert. Entgegen der
dort
angeführten Begründung behauptet JUNKER, diese
Aussage
sei
"...mindestens
fragwürdig.
Wäre sie richtig,
würde sie
das Ende des Cladismus bedeuten, der auf der evolutionstheoretisch
begründeten Erwartung beruht, dass Konvergenzen Ausnahmen sind
und
nicht verbreitet vorkommen." (PDF-Version, S. 6).
In der im Skeptiker
angegebenen
Fachliteratur wird allerdings deutlich, dass es sich bei dieser
Auffassung
keineswegs um eine fragwürdige Spekulation des Autors handelt,
sondern um ein zentrales Thema der evolutionären
Entwicklungsbiologie. Zudem ergeben sich Konvergenzen
zwangsläufig, wenn in verschiedenen Abstammungslinien auf
funktionsgleiche Merkmale selektiert wird.
Im Übrigen behauptet
auch niemand, Konvergenzen seien "die Ausnahme" (wie
sollten sie auch, wenn gleichartige Selektionsdrücke und die
Kanalisierung von Entwicklungsprozessen immer wieder ähnliche
Merkmalsausprägungen begünstigen?)
Der "Cladismus"
wäre erst dann "am Ende", wenn in der durch Konvergenzen
gestörten Merkmalsverteilung kein "phylogenetisches Signal",
keine
"Lesrichtung" der evolutinären Entwicklung mehr erkennbar
wäre - davon aber kann nicht die Rede sein (vgl. zu all dem
NEUKAMM 2009, Kap. V).
Sehr seltsam ist auch folgender
Einwand:
"Jedenfalls
scheint mir
die
Behauptung NEUKAMMs 'Wie wir oben gesehen haben, ist z.B.
eine
'programmierte Variabilität' in gewissem Umfang auch im Rahmen
der
Evolutionsbiologie zu erwarten' (148) recht gewagt. Hier geht es um das
Thema 'evolvability', ein Phänomen, das bestens zur
Grundtypenbiologie passt, im Rahmen der Evolutionstheorie jedoch nicht
verstanden ist…" (PDF-Version, S. 6).
Wenn das wirklich so
wäre,
bliebe
"Evolvability" auch im Rahmen der Grundtypenbiologie
unverstanden,
denn ihr zufolge soll die genetische Plastizität ja Ausdruck
von Mikroevolution sein. Warum etwas, das eine Evolution
ermöglicht, exklusiv zum Grundtypmodell
passen soll, bleibt JUNKERs Geheimnis. Die
grenzüberschreitende
Interpretation einer "programmierten Variabilität"
liefert jedenfalls keine Erklärung, sondern legt das zu
Erklärende dem unerklärlichen Ratschluss eines
mysteriösen Designers zur Last. Mit anderen Worten:
Das Grundtypmodell lehnt sich
an evolutionäre Erklärungen an, erklärt
darüber
hinaus aber nicht die Herkunft des "epigenetischen Systems", sondern
schiebt einen dubiosen "Programmierer" ein, um einer Erklärung
vorzugreifen. Da dieses Mysterium den
empirischen Gehalt evolutionärer Modelle nicht
übersteigt,
trägt es auch nicht mehr zum Verständnis bei, als die
Evolutionsbiologie (wie wir unten sehen werden, ist das Gegenteil der
Fall).
Des Weiteren wird im Skeptiker-Artikel
dargelegt,
dass
sich die (morphologische) Abgrenzbarkeit der Merkmale und
Baupläne, die nach Ansicht der Kreationsten gut zum
Grundtypmodell
passen soll, zwanglos im Rahmen der
Evolutionstheorie, unter Einbeziehung von Entwicklungszwängen
("developmental constraints") erklären lassen:
Bestimmte Merkmale sind konstruktiv notwendig
und
können nicht beliebig (in vielen Fällen
überhaupt nicht mehr) abgewandelt werden, ohne das filigrane
Netz funktionaler Abhängigkeiten empfindlich zu
stören.
Erstaunlich, dass dies
von JUNKER bestritten wird:
"RIEPPEL
(1994, 67f.) meint dazu: Solange
kein
kausaler Mechanismus für die Invarianz der Entwicklung
gefunden würde, sei der Verweis auf
'Entwicklungszwänge'
empirisch leer und nur eine Umschreibung für die strukturelle
Gleichheit...Evolution
erklärt die Ursache für constraints bislang nicht."
(PDF-Version, S. 13).
Nun muss man
wissen, dass sich Evolutionsgegner (implizit oder explizit)
selbst auf
"constraints" berufen, um die vermeintliche Artkonstanz, die angebliche
Unplausibilität makroevolutiver Veränderungen
zu begründen:
Der Umstand, dass die
Modifikation bestimmter Merkmale "Folgelasten" nach sich zieht und die
Entwicklung anderer Merkmale empfindlich stört, falls sie
nicht durch entsprechende
"Ausgleichsmutationen"
kompensiert würde, gehört zu den
Standardeinwänden der Evolutionskritik.
Dass biologische Merkmale, von denen die Funktion zahlreicher weiterer
Merkmale
abhängt, nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr
wandelbar
sind, ist eine Grundtatsache der Biologie. Dies
gilt
insbesondere für Merkmale, die stammesgeschichtlich alt sind.
Dieses Prinzip der "funktionellen Bürde" (vgl. RIEDL 1990,
218ff; NEUKAMM 2014, 105) ist inzwischen recht gut erforscht und kann
an
zahlreichen Beispielen nachvollzogen werden. Hier ein paar Beispiele:
Von der Effizienz des
vierkammerigens Herzens der Säugetiere hängt die
Funktion so vieler Merkmale und Organe ab, dass sich seine
Struktur nicht mehr nennenswert verändern
kann.
Wale und Delfine rekapitulieren während
ihrer Entwicklung den konventionellen Säugerbauplan
mit
Zahnanlagen und Beinknospen, obwohl sie weder Kauwerkzeuge noch
Extremitäten besitzen - ganz einfach deshalb, weil die
Organanlagen für eine formgerechte Entwicklung des Kiefers und
des Beckens benötigt werden. Deshalb tragen Wale bis
heute
Beinrudimente im Körperinnern, obwohl seit
Jahmillionen "gegenselektiert" wird.
Bei den Wirbeltieren bilden sich während
der Embryonalentwicklung aus dem so genannten Neuralrohr Gehirn,
Rückenmark und
Augen. Unter der "organisierten Herrschaft" des "Mastergens" PAX-6
quellen aus
dem hinteren Bereich des Vorderhirns Wülste
(die sog. Augenblasen)
hervor, die sich zum doppelwandigen
Augenbecher umformen. Die Ausstülpung, aus der die
künftige Netzhaut entsteht, kann nur in "eine Richtung"
erfolgen. Aufgrund dieses konstruktiven Zwangs wird die
Netzhaut
ebenfalls der Inversion unterzogen, obwohl dies konstruktiv widersinnig
ist (vgl. Abb.
2; NEUKAMM & BEYER 2011).
Abb. 2:
Ontogenetische Entwicklung der inversen Netzhaut, ausgehend vom platten
Nervensystem einfacher Deuterostomier (z
.B. Seesterne) zum ins Körperinnere eingesenkten Neuralrohr
als Anlage des Gehirns und Rückenmarks. Umgezeichnet nach
FRANZE & GROSCHE
(2008).
Wir sehen also, dass die "kausalen Mechanismen für die
Invarianz der Entwicklung" entwicklungsbiologische
Mechanismen
sind, durch die sich die Konservativität und morphologische
Abgrenzbarkeit
der Baupläne
("Grundtypen") begründet. Aus Sicht der Evolution, die ihr
stammesgeschichtliches Erbe nicht abschütteln kann, ist die
starre
Rekapitulation des Säugerbauplans bei Walen, die inverse
Netzhaut
bei Wirbeltieren u.v.a. zwingend. Ihre Entstehung wurde durch
historisch gewachsene
Entwicklungsprozesse, die sich teils bis zu den urtümlichen
Chorda-Tieren zurückverfolgen lassen,
erzwungen.
Die
Behauptung, es seien keine Mechanismen bekannt, die "constraints"
erklären könnten, wirkt aus
entwicklungsbiologischer
Sicht daher nicht gerade kompetent.
Im übrigen argumentiert JUNKER
widersprüchlich, indem er
ein Argument benützt, das er an anderer Stelle
zurückweist: Wird zugunsten des Grundtypmodells
argumentiert, ist der Hinweis auf constraints
empirisch
wohlbegründet. Werden constraints
dagegen in die moderne Evolutionstheorie implementiert, ist ihr
Argument "empirisch
leer"! JUNKER argumentiert asymmetrisch, so wie es ihm
gerade weltanschaulich in den Kram passt.
6. Der
unterschiedliche Status von evolutionären Modellen und
Grundtypmodell
JUNKER behauptet, das
Grundtypmodell erkenne die bewährten
methodologischen Prinzipien der Wissensgewinnung an, denn alle
naturwissenschaftlich behandelbaren Fragen würden auch im
Rahmen
der Grundtypenbiologie abgehandelt.
Außerdem argumentiere NEUKAMM asymmetrisch. Wenn die Aussage
"Die
Annahme einer transzendenten Schöpfung trägt demnach
gar
nichts zum Verständnis der Zusammenhänge bei, die es
gerade
zu erforschen gilt!" richtig sei, müsse im Interesse einer
symmetrischen Argumentation gleiches auch für die
Evolutionstheorie gelten. Leider ist an diesen Aussagen so einiges
falsch:
Es existiert keine
methodologische Handhabe zur Beschreibung und kausalen
Erklärung
des im Rahmen des Schöpfungsparadigmas postulierten
Erschaffungsaktes, so dass das Grundtypmodell in diesem Punkt auch
keine
wissenschaftlich
relevanten Antworten liefert. Während
evolutionäre Modelle die Entwicklung der Arten auf empirisch
begründete, entwicklungsbiologisch erforschbare Mechanismen
zurückführen, wird die Frage
nach
den Mechanismen der Entstehung polyvalenter Stammformen im
Grundtypmodell ausgeklammert. Die Frage, warum
grundtypübergreifende
Formähnlichkeiten bestehen, lässt sich derzeit nur
mithilfe der Evolutionstheorie befriedigend beantworten. Damit bleibt
das Grundtypmodell hinter dem empirischen
Gehalt evolutionärer Modelle zurück.
Im Skeptiker-Artikel
wird begründet, weshalb sich die
Annahme
von der Erschaffung polyvalenter Stammformen als integraler Bestandteil
des Grundtypmodells weder als nützlich noch als bedeutsam
für
die Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit erweist, sondern als
Hemmschuh: Überall dort, wo eine Schöpfung angenommen
wird,
büßt das Modell an Erklärungskraft ein und
trägt
nichts mehr zum Verständnis der Zusammenhänge bei,
die es
gerade zu erforschen gilt. Wenn JUNKER dies bestreitet, müsste
er
in der Lage sein zu zeigen, in welchen Bereichen Erklärungen
vorliegen, die über die Erklärungen
evolutionärer
Modelle hinausgehen.
_______________________
Literatur
FRANZE,K. & GROSCHE, J.(2008) MÜLLER-Zellen in einem
anderen Licht. Biospektrum 14, 701–703.
JUNKER, R. (2006) Verfehlte
Kritik
an der
Grundtypenbiologie. www.genesisnet.info/index.php?News=58&Sprache=
JUNKER, T. (2009) Kreationisten
erklären die Evolution: Das "kritische Lehrbuch" von Reinhard
JUNKER und Siegfried Scherer. In: NEUKAMM, M. (Hg.) Evolution im
Fadenkreuz des Kreationismus. Darwins religiöse Gegner und
ihre
Argumentation. Religion, Theologie und Naturwissenschaft, Bd. 19.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
2009, 321–338.
NEUKAMM, M. (2005) Die
kreationistische Grundtypenbiologie in der Kritik. Warum es keine
empirisch-wissenschaftliche Schöpfungsforschung geben kann.
Skeptiker 18 (4/05), 144–150.
www.martin-NEUKAMM.de/grundtyp.html
NEUKAMM, M. (2009) Evolution im
Fadenkreuz des
Kreationismus. Darwins religiöse Gegner und ihre
Argumentation.
Vandenhoeck & Ruprecht.
NEUKAMM, M. & BEYER, A.
(2011) Genial daneben: Das irreparable Design des Linsenauges.