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Neues aus der Forschung

Die Rippenquallen und der Stammbaum des Tierreichs

Was uns die ältesten Vielzeller über die Naturgeschichte lehren


Rippenquallen

Die Sequenzierung des Genoms einer Rippenqualle führte zu dem überraschenden Ergebnis, dass Rippenquallen nicht näher mit den Nesseltieren verwandt sind als mit den übrigen Vielzellern (Metazoen). Vielmehr zweigt ihre Entwicklungslinie bereits an der Basis des Stammbaums der Tiere ab. Daraus folgt, dass entweder komplexe Merkmale bei Rippenquallen und Nesseltieren unabhängig voneinander (parallel, konvergent) entstanden sind, oder dass sie bei den Schwämmen und Plattentierchen wieder verloren gingen.

Der Kreationismus deutet die neuen Ergebnisse einseitig als Indiz gegen Evolution und für Schöpfung. Aber die Realität ist komplizierter: Parallel- und vor allem Rückentwicklungen sprechen eher gegen die teleologische Deutung, denn das disharmonische "vor und zurück" passt besser zu einem nicht-intendierten, teils chaotisch verlaufenden Naturprozess. Zudem lässt sich die Parallelbildung von Muskulatur und Nervensystem im Tierreich immer besser verstehen. Vorläufersysteme existierten bereits bei den ursprünglichsten Metazoen, konvergente (Weiter-) Entwicklungen sind deshalb nicht unplausibel. Rückentwicklungen wiederum lassen sich durch Spezialanpassungen und Funktionsverluste erklären.

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Aus dem Inhalt

- Einführung

- Die fremdartigen Rippenquallen

- Umstrittener Stammbaum

- Die theoretische Analyse: Wie plausibel sind Konvergenzen?

- Ein wichtiger Fortschritt: Teleologie oder "echte" Naturgeschichte?

- Die kreationistische Antwort

- Zusammenfassung

- Literatur


Zusammenfassung

Die vollständige Sequenzierung des Genoms einer Rippenqualle führte zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Rippenquallen nicht näher mit den Nesseltieren verwandt sind als mit den "höheren Tieren" (Bilateria), obwohl ihr Bau dies eigentlich nahe legt. Stattdessen müssen die Rippenquallen an die Basis des Tierstammbaums gestellt werden. Sie wären dann die Schwestergruppe aller übrigen Tiere, auch der einfacher gebauten Schwämme. Der Kreationismus deutet die neuen Ergebnisse erwartungsgemäß einseitig als Beleg für die generelle Fragwürdigkeit einer gemeinsamen Stammesgeschichte der Arten, ohne allerdings die Plausibilität seiner eigenen Weltdeutung zu hinterfragen.

Dass eine Deutung der neuen Befunde aus einer "Schöpfungsperspektive" besser gelingen könnte als aus der Perspektive der Evolutionstheorie, wird von WORT UND WISSEN zwar immer wieder gesagt, aber nicht begründet. Bei Lichte betrachtet ist das Gegenteil der Fall: Das zahlreiche Auftreten von Parallelentwicklungen und Rückentwicklungen, das Evolutionsgegner immer wieder als scheinbar stichhaltigen Einwand gegen die gemeinsame Stammesgeschichte präsentieren, richtet sich in Wahrheit gegen das teleologische Weltbild der Evolutionsgegner. Denn diese Eigenschaft der belebten Welt passt nicht zu einer harmonischen, planmäßig eingerichteten Wirklichkeit, in der zielgerichtet bestimmte Systemzustände "anvisiert" werden, sondern weit besser zu einem nicht-intendierten Naturprozess mit seinem nicht vorhersehbaren, nicht-linearen "vor und zurück".

Damit passt sie allerdings auch nicht zu den Vorstellungen eines "naiven Adaptationismus", wonach sich Evolution linear von einer Übergangsform zur nächsten, durch harmonischen Wandel aller Merkmale eines Typus, vollzieht. Die Evolution verläuft vielmehr sprunghaft, disharmonisch und streckenweise konvergent, so wie man es unter entwicklungsgenetischen Aspekten heute auch erwartet.


Autoren: Hansjörg Hemminger, Andreas Beyer & Martin Neukamm

Copyright: AG Evolutionsbiologie