Prof. John
Lennox und die Regelmäßigkeit der Natur
Philosophische
Gedanken
zu
einer parlamentarischen Ansprache
Ist
die Naturgesetzlichkeit der Welt ein Beleg dafür, dass Gott
existiert? Ist die naturalistische Evolutionstheorie ein Glaube? Gibt
es einen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und religiösem
Glauben? Ist der christliche Glaube die Basis für moralisches
Handeln? Diese und andere Fragen behandelte John LENNOX in
einer parlamentarischen Ansprache, die er am 25.06.2013 im Britischen
Westminster-Palast
hielt. Auf
der Internetseite der
evangelikalen Studiengemeinschaft WORT UND WISSEN wurde die Predigt ins
Deutsche übertragen, da sie angeblich "sehr gute
Argumente gegen den Atheismus und für Wissenschaft auf der
Basis von Schöpfung" sowie für "eine biblisch
fundierte
Ethik" enthalte; das Transkript wurde als "Diskussionsbeitrag"
gekennzeichnet (1).Gehen wir also den Fragen und Antworten auf den
Grund. Prüfen wir, ob LENNOX' Argumente tatsächlich
halten, was die
Evangelikalen sich davon versprechen.
Der Glaube an
Gott lässt
nicht zwangsläufig Naturgesetze erwarten, der Naturalismus
schon
Nach der undifferenzierten Behauptung, dass die Kritik der Atheisten am
christlichen Glauben im Wesentlichen aus Spott und Lästereien
bestehe, beginnt die Debatte mit der Bemerkung:
"Ironischerweise
war es die Bibel, die Europa mit dem
Gedanken erfüllte, dass ein rationaler, intelligenter Gott das
Universum geschaffen hat und erhält. Sie bereitete damit den
Boden für die moderne Naturwissenschaft. ‚Menschen
wurden wissenschaftlich, weil sie Gesetze in der Natur erwarteten, und
sie erwarteten Gesetze in der Natur, weil sie an einen Gesetzgeber
glaubten‘ (C. S. Lewis)."
Diese Aussage ist historisch falsch, und im Übrigen auch
inhaltlich: Bei HERODOT finden wir die Berichte über THALES
VON MILET, der anhand der Saros-Periode die Sonnenfinsternis vom 28.
Mai 585 v. Chr. vorhersagte. Spätestens damit beginnt die
Geschichte der Idee, dass die Natur nach festen Regeln funktioniert. Zuvor betrachtete man die
Verfinsterung der Sonne noch als eine Laune
der Götter! So interpretierten die Meder das
Naturereignis als
ein böses Omen durch eine Gottheit, während ihre
Gegner, die Lyder, vorgewarnt waren und so aus der Schlacht siegreich
hervorgingen.
Man muss dazu wissen, dass wir über eine "angeborene
Ontologie" (= Seinslehre)
verfügen, bei der wir zwischen dem Wirken von "intentionalen
Agenten" und unbelebten Objekten
unterscheiden (siehe BOYER 2009). Jedes Kind weiß, dass ein
Ball, den man tritt, sich anders verhält und bewegt als eine
Katze. Während man die Bewegung des Balls, verursacht durch
den Fußtritt, relativ genau abschätzen kann, ist das
beim Verhalten einer Hauskatze nicht möglich. Letztere
reagiert (mehr oder weniger) willkürlich. Was man nicht streng
deterministisch vorhersagen kann, unterliegt oft der Laune von
Personen, oder (nach unserer angeborenen Ontologie) eben
Göttern, wie z.B. einem uns wohl gesonnenen oder zornigen
Wettergott, der Gewitter macht, zerstörende Tsunamis und
Sintfluten verursacht, Arten hervorbringt usw.
Man kann also
sagen,
dass die Regelhaftigkeiten der natürlichen Umstände
bzw. die Gesetzmäßigkeiten in der Natur gerade die
Grundlage des Atheismus
bilden, was sich bis in die Antike
zurückverfolgen lässt. Bereits die Vorsokratiker
betrieben eine gründliche Naturphilosophie – heute
würde man "Physik" dazu sagen. Das
entspringt der heidnischen Vorstellung, dass die Götter
personalisierte Naturkräfte seien, die in der Natur wirken,
sie aber nicht erschaffen haben. Dass die Welt nach Regeln funktioniert
und nicht von den Stimmungen der Gottheiten abhängt,
führte zum Atheismus bei einigen Vorsokratikern. So haben
Naturphilosophen wie HERAKLIT, LEUKIPP und DEMOKRIT, die
Vorgänge in der Welt materialistisch interpretiert. Ihre Lehre
hat das wissenschaftliche Weltbild der Gegenwart entscheidend
beeinflusst.
Die Behauptung, dass ausgerechnet der Glaube an einen
übernatürlichen "Gesetzgeber",
noch dazu die Bibel, den Boden für die moderne
Naturwissenschaft bereitete, ist somit nachweislich falsch. Im
Gegenteil, die christlich-teleologische Denkweise des Mittelalters
sowie die Allmacht der christlichen Kirche brachten die Wissenschaften
Jahrhundertelang zum Stillstand, wie die Fälle Giordano BRUNO
und Galileo GALILEI beweisen. Die Naturwissenschaften der Renaissance
und Neuzeit begannen erst zu florieren, nachdem
Übernatürliches sukzessive daraus verschwand.
Ignoranz ist
kein Beweis
für Gott
Denn in den Vorstellungen der Schöpfergottgläubigen
verbirgt sich ein logischer Widerspruch: Einerseits werden die
mechanischen Ordnungsprinzipien der Welt als ein Indiz für
Gott angesehen. Andererseits gilt ebenso eine Laune der Natur, ein Wunder, als ein
Nachweis für Gott. Im Grunde ist beides ein
Argument aus Ignoranz: Wir wissen nicht, was die Ursache für
die Naturgesetze ist – also war es Gott. Wir wissen nicht,
woher ein "Verstoß" gegen die Regeln
herstammt – folglich war es Gott. Man kann aber nicht beides
gleichzeitig haben: Wenn
alles und sein Gegenteil etwas beweist, ist
der Beweis wertlos! Denn wenn es keinen
Schöpfergott gibt, dann
muss es zwangsläufig
so sein, dass die Natur nach festen
Prinzipien (Naturgesetzen) funktioniert. Die Tatsache, dass wir hier
sind, Wissenschaft betreiben können, ist ein Beleg
für diesen Umstand. Mehr Indizien werden nicht
benötigt (siehe VOLLMER 2003). Hinzu kommt, dass man
für die Herkunft der Naturgesetze keinen Gott braucht (siehe
STENGER 2006).
Es wäre in der Tat ein harscher Widerspruch, seinen Atheismus
aus der Rationalität heraus zu begründen, aber
gleichzeitig anzunehmen, dass die Natur nicht nach festen
Prinzipien
funktioniert. Ich kenne keinen Atheisten, der diese Auffassung
vertritt, folglich führt LENNOX hier ein Strohmann-Argument
ein. Im Grunde ist die Vorstellung, dass die Welt nach mechanischen
oder zumindest statistischen
Gesetzen arbeitet, in der das Eingreifen
übernatürlicher Instanzen
überflüssig ist, bereits die Grundlage des
Naturalismus bzw. Atheismus.
Die alten Heiden betrachteten Götter als Teil der Natur,
nicht
als etwas, was "über" ihr steht. Das
reicht als Anstoß aus, um die Regularien der Welt zu
erforschen. Man benötigt dazu keine supernaturalistischen
Pseudoerklärungen. Im Gegenteil: Da übernatürlich
ein Synonym ist für "wir wissen es nicht", wird jede
Erklärung
unbrauchbar, wenn wir Ignoranz als ihr Fundament ansehen. Auch ohne
Christentum gab es geschichtlich die ersten Anlässe,
Naturwissenschaft bzw. Naturphilosophie zu betreiben, sodass dieses
Argument von LENNOX historisch und sachlich falsch ist. Dass ein
intelligenter Mensch wie LENNOX einen solchen Widerspruch vertritt,
kann man auf Verzweiflung zurückführen. Der Atheismus
muss keineswegs
"…
klein beigeben, wenn er mit dem Gott konfrontiert wird, der das
kreative Wort ist und der das Universum verstehbar gemacht
hat."
Erstaunlich, dass ausgerechnet nicht
begreifbare Ereignisse als Beweis
für den Schöpfer angesehen werden.
Konflikt
zwischen rational
gerechtfertigtem Glauben und nicht rational gerechtfertigtem Glauben
"Mittlerweile
sollte klar sein, dass nicht notwendigerweise
ein Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Gott besteht. Der Konflikt
besteht eigentlich zwischen Weltanschauungen: Atheismus und
Theismus."
Einen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Gott gibt es immer dann,
wenn man ein supernaturalistisches Geistwesen als Ursache weltlicher
Vorgänge postuliert. Natürliche
Gesetzmäßigkeiten, die man schon erkannt hat
(Evolution), die dann ersetzt werden sollen durch willkürliche
Launen eines außerkosmischen Aliens (Kreationismus)
provozieren einen Streit. Die Heiden hatten dieses Problem nicht. Wobei
man anmerken muss: Bezüglich eines
übernatürlichen Schöpfergottes war und ist
die Mehrheit der Heiden atheistisch eingestellt. Das warf man ihnen
später von christlicher Seite vor.
Der Konflikt besteht nicht nur zwischen Theismus und Atheismus, sondern
zwischen den Erklärungen der Naturwissenschaft – die
nur beobachtbare, messbare Fakten zu ihren Theorien heranziehen
dürfen. Zu
jeder wissenschaftlichen Anschauung kann man einen
Gegensatz konstruieren, indem man nicht überprüfbare
Wesen einbaut. Gravitation könnte auch durch
einen
Dämonen im Innern der Sterne und Planeten entstehen, der
Materie ansaugt. Die Anzahl solcher möglichen
Pseudoerklärungen ist unvorstellbar groß, so wie
umgekehrt die Wahrscheinlichkeit, dass diese wahr sind, entsprechend
unendlich klein ist.
Ansonsten, wenn man X postuliert, das einen Einfluss auf die Welt hat
– gleich welcher Art – lässt sich die
Existenz von X anhand der Wirkung nachweisen. Kann man dies nicht,
existiert X nicht, diese Haltung entspricht der allgemein
üblichen Methodologie. Nach diesem bewährten
philosophisch-wissenschaftlichen Prinzip hat Gott nichts in den
Naturwissenschaften zu suchen. Könnte
man eine Auswirkung
nachweisen, etwa beim Beten, müssten auch Wissenschaftler die
Möglichkeit, dass der angebetete Gott vorhanden ist, in
Betracht ziehen. Alle bisherigen Versuche in dieser
Richtung verliefen
indes negativ. Wie man Übernatürliches mit
wissenschaftlichen Methoden beweisen kann, erläutert STENGER
in STENGER (2007). Ob das Nachzuweisende transzendent, rein geistig,
esoterisch, supernaturalistisch, unsichtbar oder sonst was ist, spielt
im Gegensatz zu populären Fehlurteilen keine Rolle!
Nun folgt die übliche Taktik, den Atheismus als einen
"Glauben" hinzustellen:
"[D]as
wissenschaftliche Arbeiten erfordert Glauben, dass man
überhaupt wissenschaftlich arbeiten kann, was wiederum
erfordert, dass wir uns auf unsere menschlichen kognitiven
Fähigkeiten verlassen können. Laut atheistischer
Lehre sind diese Fähigkeiten Produkte geistloser, ungelenkter,
natürlicher Prozesse. Wenn das der Fall ist, warum sollte ich
irgendetwas glauben, was sie mir erzählen? Wenn Sie glauben
würden, Ihr Computer sei das Produkt geistloser Prozesse,
würden Sie ihm vertrauen?"
Diese Art der Faktenverdrehung in für viele Theisten typisch.
Nur taugt ein Computer nicht als Analogon zum menschlichen Intellekt,
weil es bei Computern (im Gegensatz zur Evolution des Menschen und
seines Gehirns) keine Mutation, kein Wachstum, keine Selbstvermehrung
und vor allen Dingen keine natürliche Auslese gibt.
Wären dagegen Computer zur Selbstorganisation
befähigte Maschinen und ihre neuronalen Programme
selbst-optimierend, warum sollte man ihnen dann nicht vertrauen? Es ist
bezeichnend für Theisten wie LENNOX, dass sie beharrlich den
Zufall in der "atheistischen Lehre" heraus zu
streichen, die Notwendigkeiten und steuernden Einflüsse in der
Evolution, die den Zufall zähmen (insbesondere die Selektion)
dagegen ignorieren. Dadurch wird jeder Vergleich, der
darauf abzielt,
dem Naturalismus die naive Position unterzuschieben, Gedanken seien nur
"bedeutungslose Schaltvorgänge an Synapsen im
Hirn", Makulatur.
Etwas Bedeutsames wird für uns
nicht dadurch bedeutungslos, dass es nicht gottgewollt ist. Genauso
wenig ist für uns das Ziel und der Sinn des Lebens Gott,
sondern das Leben selbst – sein Fortbestand in
kommenden
Generationen und das, was wir ihm an positiven Momenten,
Freundschaften, Beziehungen, übergeordneten Zielen und
Höhepunkten abgewinnen (EPIKUR). Die christliche Ethik
hingegen normiert nicht selten an den Bedürfnissen des
Menschen vorbei (Stichwort: Sexualethik und Askese) und
vertröstet ihn auf ein "Leben nach dem
Tod", womit wir bei MARX angelangt wären: Religion
bietet, objektiv betrachtet, keine Perspektiven, sondern ist Quell
metaphysischer Illusion, eine Art Opium für das Volk,
Trostpflaster und Beruhigungstablette für den Geknechteten,
Unterdrückten, Hoffnungslosen. Es bietet nichts, was eine
gute
Psychotherapie nicht auch leisten könnte. (2)
Im Zentrum der "atheistischen Lehre" (genauer gesagt, des
wissenschaftlichen Naturalismus), steht übrigens auch nicht
der "Glaube" an "geistlose, ungelenkte
Prozesse", sondern das Fehlen des ungerechtfertigten Glaubens
an Götter, Geister, Dämonen, Hobbits, Elfen usw.
sowie an deren Einflüsse auf das Weltgeschehen. Warum das Fehlen eines
solchen Wunderglaubens, insbesondere das Glauben an einen
Gott, selbst ein Glaube sein soll, bleibt unerfindlich. Das Fehlen
eines Autos betrachten wir normalerweise auch nicht als Autobesitz! Man
muss dazu zwei Arten von Glauben unterscheiden, die hier heillos
durcheinander geworfen werden:
• Glauben, der auf Argumenten,
auf Beweisen,
auf Evidenzen,
auf Wohlbegründetem
basiert. Dies
bezeichnet man als "gerechtfertigten Glauben"
– in der Philosophie die Definition des Wortes "Wissen". Das
kommt in den verschiedensten Graden
der Gewissheit, die nie absolut sein kann. Dies bezeichne ich als
"Alltagsglauben".
• Davon abgrenzen muss man den religiösen
Glauben,
der auf rationale Rechtfertigung verzichtet.
Davon möchte LENNOX freilich nichts wissen:
"Das
Christentum beruht auf Beweisen. Lukas, der sich als hervorragender
Historiker erwiesen hat, berichtet dem hohen römischen Beamten
Theophilus, dass er alles von Anfang an genau verfolgt hat, damit
Theophilus Gewissheit hat über das, was er glaubt. Lukas
berichtet auch von Paulus’ Behauptung gegenüber den
Philosophen in Athen, dass Gott durch die Totenauferweckung Jesu jedem
bewies: Jesus war der, der er behauptete zu sein. Zu dieser
historischen Beweisführung tritt die persönliche
Erfahrung. Denn Glaube an Gott ist gemäß der
christlichen Lehre bei weitem nicht blind, sondern rationales,
persönliches Vertrauen, das auf vielfältigen Beweisen
basiert."
Ausgerechnet LUKAS als Indiz anzuführen, dass der christliche
Glauben auf Beweisen beruht, ist eine Irreführung: Vielmehr
fußt er auf Behauptungen
eines anonymen
antiken Autors,
für die es keine
unabhängigen Indizien gibt. Religion
schließt Vernunft nicht unbedingt aus, aber hier ist dies
ohne Frage der Fall, wenn man Behauptungen und Beweis miteinander
verwechselt.
Konsequenzen
und Wunschdenken
Es wird nicht besser, wenn man seine Weltanschauung von den
Konsequenzen her zu "begründen" sucht.
Denn dies führt zu nichts weiter als zu einem
"illusionären Denken als Magd der
Wunscherfüllung" (ALBERT 2000; ALBERT 2005). Etwas
wird nicht wahr, weil die Folgen wünschenswert sind, oder
unwahr, weil das nicht der Fall ist. Das wird vor allem
interessant vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass es keineswegs bewiesen ist, dass die
Religion so positive Auswirkungen hat. Das ist bereits Bestandteil
einer Vorstellung, die auf alle Beweise verzichtet:
"Der
britische Großrabbiner Jonathan Sacks wies
kürzlich darauf hin, dass der größte
Atheist aller Zeiten, Friedrich Nietzsche, die Konsequenzen seiner
Abwendung von Gott mit erschreckender Klarheit erkannte. Aber seine
derzeitigen Nachfolger haben diesbezüglich nicht einen Hauch
von Ahnung. Sacks schrieb: "In seinen späteren
Werken weist uns Nietzsche immer wieder darauf hin: Wenn wir den
christlichen Glauben über Bord werfen, führt das zum
Verschwinden der christlichen Werte. Nicht mehr ‘Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst’; stattdessen der Wille zur
Macht. Nicht mehr ‘Du sollst nicht’; stattdessen
leben die Menschen nach dem Naturprinzip, dass die Starken die
Schwachen unterdrücken oder vernichten. … Die
Werteverschiebung in unserer heutigen Gesellschaft bestätigt
Nietzsche. Wir stehen in Gefahr, den Beitrag des Christentums zu den
ethischen Grundfesten unserer Gesellschaft zu vergessen."
Die
Wertebegründung des Christentums ist sehr problematisch,
was ich an anderer Stelle ausführlich begründet habe
und hier nicht wiederhole. (3) Dass aus dem Christentum heraus die
Sklaverei sowohl verteidigt als auch bekämpft wurde, um nur
ein Beispiel zu nennen, spricht für Willkür, aber
nicht für feste moralische Prinzipien.
NIETZSCHE ist der Lieblingsatheist der Theologen. Der Grund ist simpel:
Man könnte aus seinen Werken herauslesen, dass die Ablehnung
der christlichen Werte zum Verschwinden der Nächstenliebe und
reinem Machtkalkül führt, speziell in den
Abschnitten, die NIETZSCHEs Schwester gegen seinen Willen editiert hat.
Das ist aber nur eine von vielen möglichen Interpretationen,
und die Theologen preisen ihn, weil diese Darstellung ihnen in die
Hände spielt. Vermeintlich – denn wenn man genau
nachliest, wirft NIETZSCHE den Christen vor, mit ihrer Moral die
Schwachen zu versklaven und dass ihre Werte rein nihilistisch sind!
Will man den Nihilismus überwinden, muss man auch das
Christentum (und Gott) aus dem Felde schlagen. Das haben
später die Werteidealisten als Ausgangspunkt für
ihren Atheismus genommen: Damit
Menschen eine Moral haben
können, muss diese autonom
gebildet werden, wie KANT
herausgearbeitet hat. Mit einem außerkosmischen Alien, das
über "moralische Macht" verfügt,
gibt es keine Autonomie, damit keine Moral. Will man eine Ethik
begründen, muss man sich wünschen, dass es keinen
Gott gibt, und selbst wenn es ihn gäbe, dürfte man
nicht an ihn glauben. Denn handelt man bloß aufgrund von
Belohnung (Paradies) und/oder Angst vor Bestrafung (Hölle),
agiert man ohne Moral. Dieser "moralische
Atheismus" wird von Theologen selbstverständlich
totgeschwiegen.
"Jeder,
der nicht bereit ist, einem völlig
unsinnigen ethischen Subjektivismus zu verfallen, steht vor dem
Dilemma, das H. P. Owen so zusammenfasst: ‚Einerseits liegen
[objektive ethische] Ansprüche außerhalb einer
menschlichen Person ... Es wäre andererseits
widersprüchlich zu behaupten, unpersönliche
Ansprüche seien unserer Zustimmung unterworfen. Die einzige
Lösung für dieses Paradoxon ist die Annahme, dass die
Ordnung der [objektiven ethischen] Ansprüche ...
tatsächlich in der Persönlichkeit Gottes
begründet ist.‘"
Ich erspare mir an dieser Stelle ein näheres Eingehen auf das
von SOKRATES formulierte Eutyphron-Dilemma,
da es LENNOX und Konsorten
sowie ignorieren. Nur so viel: Wenn das ethisch Richtige als das
Gottgefällige definiert wird, haben Begriffe wie "gut" und
"richtig" keine
Bedeutung mehr, sondern besagen nur, dass etwas von einer Gottheit
gewollt wird. Dann wäre es auch moralisch, wahllos kleine
Kinder aufzuschlitzen, wenn Gott es befehligte. LENNOX schlägt
sich damit selbst alle Karten aus der Hand zu beurteilen, was gut ist
und was böse. Wem es aber auf der Zunge liegt zu entgegnen,
Gott würde niemals derart grausame Befehle erteilen, gibt
selbst zu, dass der Bewertungsmaßstab dafür, was gut
und richtig ist, außerhalb
von Gott liegt.
Die Begründer des ethischen Denkens, die antiken griechischen
heidnischen Philosophen, hatten dieses Problem nicht, weil ihre
Götter nicht die Gebieter über die Moral waren. Das
führt keineswegs zu einem ethischen Subjektivismus. Diesen
finden wir im Christentum vor, weil jeder seine eigene Ansicht
für die von Gott hält! (4)Christliche
Moral ist die
eigene, subjektive
Moral, projiziert auf Gott: Die einen halten es
für gerechtfertigt, Schwarze zu versklaven, die anderen,
Homosexuelle zu töten, andere Nichtgläubige zu
diskriminieren, wieder andere sehen darin einen Verstoß gegen
das Gebot der Nächstenliebe – dies alles im Namen
Gottes und der Bibel!
Besonders merkwürdig ist das Zitat von
Melvyn BRAGG:
"Es
befremdet mich, dass Menschen, die sich
selbst Atheisten nennen … meinen, dass dies ihnen das Recht
gibt, jede Menge Wissen aufzugeben, das die Menschen zweitausend Jahre
hindurch belehrt und zu einigen der größten
Errungenschaften, die die Menschheit je gesehen hat, geführt
hat. Dieses Wissen muss in jedem Fall in Betracht gezogen werden, wenn
wir überhaupt über die Vergangenheit in Bezug auf
Ethik, Geschichte und Kunst nachdenken wollen."
Es geht aber gar nicht um Wissen,
es geht um religiösen
Glauben, als rational gerechtfertigten Glauben versus
einem, dem die
vernünftige Rechtfertigung fehlt. Die Moral der Historie war
kein Ruhmesblatt, die historischen Entwicklungen ebenso wenig, und
Kunst gäbe es auch ohne Götterverehrung. Einst war
zwar die Kirche ein größerer Förderer
frommer Kunst, wenn auch nur deswegen, weil sie über die
finanziellen Mittel verfügte. Den Errungenschaften stehen
religiöse Gräuel gegenüber; was die Bilanz
angeht, kann man durchaus zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen.
Die
Erpressung mit der einzig
möglichen Alternative
Es ist außerdem ein Fehlschluss, zu meinen, dass Gut und
Böse dadurch verschwinden, dass wir auf das Christentum
verzichten. Das kannten schon die alten Heiden, oder die chinesischen
Bürger: Böse ist, was mir schadet, gut ist, was mir
nützt. Man braucht kein außerkosmisches Alien, um
eine Moral zu begründen, dazu reicht ein "Wir, die
Betroffenen, haben uns auf diese gesellschaftlichen Regeln
geeinigt". Ist es nicht äußerst seltsam,
dass man sich für ein Fußballspiel auf Regeln
einigen kann, ohne sich auf einen Gott zu berufen? Warum ist ein "Foul"
böse? Warum sollte das für
eine Gemeinschaft nicht funktionieren?
ALBERT nannte das Manöver von LENNOX "die Erpressung
mit der einzigen Alternative", siehe ALBERT (2005). Es wird
behauptet, man müsse an Gott glauben, um eine Moral und einen
Sinn des Lebens zu haben – ansonsten geht unsere Zivilisation
unter. Merkwürdig, dass eine seit über 4.000 Jahren
kontinuierlich bestehende Gesellschaft, das chinesische Reich, nie
unterging, während christlichen Imperien dies in
schöner Regelmäßigkeit zugestoßen
ist. Dabei wurde China zunächst von einer rein weltlichen
Philosophie, dem Konfuzianismus, geprägt, dann vom Kommunismus
– ohne dass man sich auf Gott oder Götter berief.
Dort wusste man auch ohne Gottesbezug, dass Mord und Diebstahl
böse sind und verboten werden müssen. Seltsam auch,
dass die Chinesen Kriege fast ausschließlich zur Verteidigung
durchführten, dieweil das christliche Europa einst die ganze
Welt mit Gewalt überzog.
Interessant ist
auch, dass wir in fast allen Gesellschaften die goldene
Regel finden, auch ohne einen Glauben an einen mächtigen
Schöpfergott. Das wird wieder als Indiz gedeutet,
dass Gott
allen Menschen eine Moral eingegeben hat, nur, warum bedarf die dann
regelmäßig der Ergänzung und versagt so
oft? Gott scheint bei der Verabreichung seiner Moral weit unter seinem
Potenzial geblieben zu sein - weswegen dies eben kein Indiz
für Gott ist, sondern dafür, dass Moral die Funktion
hat, die Konflikte des Zusammenlebens zu regeln, um Schaden zu
minimieren. Ähnliche Umstände führen dann
auch zu ähnlichen Regeln, wie man daran sehen kann, dass
Insekten, Vögel und Fledermäuse alle Flügel
besitzen, um zu fliegen.
Gemäß der Bibel sollen die Menschen einen
"unermesslichen Wert" verfügen:
"Gemäß
der Bibel haben Menschen
unermesslichen Wert, weil sie im Bild Gottes geschaffen sind. Das gilt,
ob sie an Gott glauben oder nicht, und wird dadurch bestätigt,
dass wir in jeder Religion und Philosophie dieser Welt eine Version der
Goldenen Regel finden: ‘Behandle andere Menschen so, wie du
behandelt werden willst.’ Meiner Erfahrung nach ist der Weg
für respektvolle und doch intensive und ehrliche Diskussionen
bereitet, wenn wir diese Verhaltensregel beachten."
Herr LENNOX muss eine andere Bibel gelesen haben, denn laut diesen
antiken Texten sind Personen Ton in der Hand des Schöpfers.
Die kann man mal schnell alle mit einer Sintflut ersäufen,
oder seltsame Spiele mit ihnen treiben wie bei HIOB. Das Christentum
reflektiert mit seiner Praxis im Mittelalter keineswegs die Idee eines
hohen Wertes des Menschenlebens. Sicher ist nur eines
– dass
moralische Werte wie Freiheit und Gleichheit und der Wert jedes
Einzelnen erst in den westlichen Gesellschaften Fuß zu fassen
begannen, nachdem die Aufklärung Zug um Zug die alten
Zöpfe christlicher Wertvorstellungen und Dogmatik
abzuschneiden begann. Diese Tatsache scheinen Menschen wie LENNOX in
ihren moralphilosophischen Analysen notorisch zu übersehen.
Fazit
Insgesamt finde ich, dass der Artikel von Prof. LENNOX mit
Widersprüchen gepflastert ist, Strohmann-Argumente gegen
Atheisten bemüht, und wieder versucht, uns mit "der
(angeblich!) einzigen Alternative" zu erpressen. Das mag
Gläubige, die ja gerne auf Beweise und Argumente verzichten,
überzeugen, aber auf Atheisten wie mich wirkt es bestenfalls
lächerlich. Darüber hat sich Prof. LENNOX gleich zu
Beginn beschwert, aber mein Rat lautet: Wenn man nicht will, dass sich
andere über den Glauben lustig machen, sollte man nicht so
lustige Dinge glauben. Außerdem, über die Wahrheit
und über Tatsachen kann man sich nicht lustig machen, was
bedeutet, dass der Glauben weder auf dem einen noch dem anderen beruht.
Literatur
ALBERT, H. (2000) Kritischer Rationalismus: Vier Kapitel zur Kritik
illusionären Denkens. Uni-Taschenbücher 2138.
Tübingen:
Mohr Siebeck. http://books.google.de/books?id=U98PAQAAIAAJ.
ALBERT, H. (2005) Das Elend der Theologie: Kritische Auseinandersetzung
mit Hans KÜNG. Aschaffenburg: Alibri.
BOYER, P.; ENDERWITZ, U. (2009) Und Mensch schuf Gott. Stuttgart:
Klett-Cotta.
STENGER, V.J. (2006) The comprehensible cosmos: Where do the laws of
physics come from? Amherst, N.Y.: Prometheus Books.
STENGER, V.J. (2007) God: the failed hypothesis: How science shows that
god does not exist. Amherst, N.Y.: Prometheus Books.
VOLLMER, G. (2003) Wieso können wir die Welt erkennen? Neue
Beiträge zur Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Hirzel.
http://books.google.de/books?id=s3s4AQAAIAAJ.
(2) Im Gegenteil, die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer
Maßnahmen ist erwiesen und positiv, was sich von
religiösen Erziehungsmethoden (einschließlich der
Androhung ewiger Höllenqualen) nicht gerade behaupten
lässt. Nicht selten müssen Therapeuten gerade das
ausbügeln, was religiöse Erziehung bei Kindern
angerichtet hat.