Welche
Rolle spielt das Claustrum bei der Entstehung von Bewusstsein?
Seit
Jahrhunderten übt das Bewusstsein eine enorme Faszination auf
die Menschheit aus, da es kein Phänomen gibt, das
rätselhafter erscheint. Es ist naheliegend, dass Bewusstsein
durch mentale Prozesse im Gehirn entsteht, denn unsere Erlebniswelt
korreliert mit neuronalen Erregungsmustern. Doch es ist bis heute weder
genau geklärt, wie
bzw. durch welche Hirnaktivitäten
bewusstes Erleben entsteht, noch, welche Hirnareale existieren
müssen, damit wir Reize nicht nur mental verarbeiten, sondern
sie auch als psychischen Akt verfügbar haben, sie also bewusst
erleben (in Form von Schmerzempfindungen beispielsweise).
In dem Bemühen, die Natur
des menschlichen Bewusstseins zu verstehen, gelang den
Neurowissenschaften jetzt möglicherweise eine bahnbrechende
Entdeckung: Durch elektrische Stimulation einer bestimmten Region, des
so genannten Claustrums,
ließ sich bei einer Epileptikerin
das Bewusstsein gezielt aus- und wieder anschalten (KOUBEISSI et al.
2014). Francis CRICK und der Neurowissenschaftler Christof KOCH
formulierten bereits vor Jahren die Hypothese, dass
gerade diesem Teil des Gehirns bei der Entstehung bewussten
Wahrnehmens eine Schlüsselrolle zukommen könnte
(CRICK
& KOCH 2005). Was hat das Claustrum mit der Entstehung
von Bewusstsein zu tun, und warum ist der Befund wegweisend?
Damit wir über
ein Bewusstsein
verfügen, muss sich das Gehirn selbst
Systemzustände in
Form synchroner, neuronaler Schwingungen schaffen. Es muss also ein
neuronales Schaltzentrum vorhanden sein, das die Informationen der
verschiedenen Hirnareale "ordnet" und Koalitionen von Nervenzellen
organisiert, die dazu gebracht werden, phasensynchron zu "feuern". Das
Claustrum steht schon lange in Verdacht, ein solches
neuronales
Schaltzentrum zu sein. Es handelt sich dabei um eine
dünne, im Zentrum des Gehirns liegende
Schicht von Neuronen, die in beiden Hirnhemisphären unterhalb
des Neocortexes vorkommt. Dort laufen die Informationen aus
unterschiedlichen Regionen der Großhirnrinde zusammen, die
uns verschiedene Sinneseindrücke vermitteln und andere
Kognitionsleistungen erbringen. Es wird vermutet, dass das Claustrum
die Informationen synchronisiert, ähnlich einem Dirigenten,
der den Einsatz der verschiedenen Instrumentalgruppen in einem
Orchester zeitlich ordnet, so dass eine harmonische Symphonie
daraus entsteht. Die elektrischen Impulse werden so zu einem
harmonischen
"Weltbild" synorganisiert, wodurch, so die Vermutung,
überhaupt erst bewusstes Erleben möglich
wird.
Das
Claustrum wäre demnach weit mehr als ein schlichter
An-/Aus-Schalter für
Bewusstsein. Vielmehr übernähme es aufgrund seiner
Beschaffenheit eine aktive Rolle bei der Organisation des
neuronalen Orchesters in
unserem Kopf. Sollte diese Hypothese stimmen, dann müsste im
Falle einer
Störung der Informationsverarbeitung im Claustrum unser
Bewusstsein schwinden.Eine
Möglichkeit, diese Folgerung
experimentell zu überprüfen, ergab sich in den
letzten Jahren zwar nicht. Sollten sich aber die an der Epileptikerin
gewonnenen Erkenntnisse
erhärten, wäre diese Folgerung bestätigt -
und damit auch die Hypothese hinsichtlich der Rolle, die dem
Claustrum bei der Entstehung von Bewusstsein beigemessen
wird. Dafür
sind aber noch weitere Experimente nötig, denn eine
Probandin reicht für derart weitreichende Schlüsse
nicht aus - insbesondere, da der Frau Teile des Hypocampus zu fehlen
scheinen. Deshalb ist die Interpretation der Ergebnisse
noch umstritten.
Die Wissenschaftler gelangten eher
zufällig zu dieser
Entdeckung, als sie unterschiedliche Bereiche des Gehirns der Patientin
durch feine Elektroden stimulierten, um das Zentrum der
epileptischen
Anfälle ausfindig zu machen. Sie bemerkten, dass die Frau das
Bewusstsein genau in dem Moment verlor, als sie die Elektrode zwischen
dem linksseitigen Claustrum und der anterior-dorsalen Insula
platzierten und eine elektrische Spannung anlegten. Die Frau bewegte
sich nicht mehr, reagierte nicht mehr auf Reize, und ihre Atmung
verlangsamte sich. Nach Beenden der Elektrostimulation erwachte die
Frau wieder und konnte sich an das Ereignis nicht erinnern.
Interessanterweise war der Effekt reproduzierbar: Die Hirnregion der
Probandin wurde über einen Zeitraum von zwei Tagen mehrmals
elektrisch stimuliert, jedes Mal mit demselben Ergebnis. Die
54-Jährige
musste während der Prozedur bestimmte Worte wiederholen oder
komplexe Bewegungen ausführen. Während der
Stimulation nahmen
Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke plötzlich ab und
die Bewegungen
wurden langsamer, bis das Bewusstsein schwand.
Die Erkenntnis, dass in einer
konkreten
Hirnregion
die Voraussetzungen für ein bewusstes Erleben der
Welt geschaffen werden, ist nicht ohne
weltanschauliche Brisanz. Zwar geht die naturalistische Hirnforschung
schon lange davon aus, dass "Bewusstsein" ein
Epi-Phänomen materieller Prozesse ist; wie erwähnt
gibt es starke Indizien dafür, wogegen der Annahme, das
Bewusstsein existiere unabhängig
vom Gehirn, jegliche
Plausibilität fehlt.[1]
Allerdings wurde und wird diese
Voraussetzung immer wieder durch Menschen und Philosophen mit
religiöser oder immaterialistischer Weltanschauung in Frage
gestellt. Sie behaupten, die Entstehung von Bewusstsein sei prinzipiell nicht
zu erklären, ohne Anleihen an dubiose immaterielle oder
übernatürliche Faktoren zu nehmen. Im Lichte des neuen Befunds
erscheint dieses Dogma jedoch fraglicher denn je.
Freilich erklärt er nicht, wie Bewusstsein
entsteht. Aber die Lokalisierung im
Claustrum wäre ein Schritt in diese Richtung, wenn es
gelänge, den "neuronalen Schaltplan"
dieser Hirnregion zu entschlüsseln.
Weitreichende Erkenntnisse
ergäben sich damit auch
für die Evolution
des Bewusstseins: Anhand vergleichender
Untersuchungen zwischen den Claustren verschiedener
Säugetierarten und deren Erregungsmustern
lässt sich prinzipiell ermitteln, wie und wann in der
Evolution des Gehirns die Schwelle zum bewussten Erleben
überschritten wurde. Auch erkenntnistheoretische und
tier-ethische Fragen könnten durch diese Erkenntnisse in naher
Zukunft beantwortet werden: Tiere, die kein Claustrum aufweisen, nehmen
Schmerzen trotz Stresssyndrom und Abwehrreflexen vermutlich nicht
bewusst wahr. Freilich wäre dies kein Freibrief, um Tiere zu
quälen und zu töten, doch stellt sich beim
Fleischverzehr unweigerlich die Frage, ob und inwieweit Tiere bei der
Schlachtung unnötigem Leid ausgesetzt sind.
Literatur
CRICK, F.; Koch, C. (2005) What is the function of the claustrum?
Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences
360, 1271–1279.
KOUBEISSI,
M.Z.; BARTOLOMEI, F.; BELTAGY, A.; PICARD, F. (2014)
Electrical stimulation of a small brain area reversibly disrupts
consciousness. Epilepsy & Behavior 37, 32–35.
____________________________________________
Fußnoten
[1] Wer
behauptet, das Bewusstsein existiere autonom (also unabhängig
von materiellen Prozessen im Gehirn), müsste nicht nur
erklären können, wie es dann kommt, dass die
verschiedenen Bewusstseinszustände immer mit konkreten
Hirnaktivitäten korrelieren. Er müsst auch eine
plausible Antwort auf die Frage geben können, warum das
Bewusstsein immer dann erlischt, sobald man in Narkose liegt. Wo ist
das Bewusstsein in dieser Zeit? Außerdem
müssten
Mechanismen bekannt sein, die eine spezifische "Interaktion" zwischen
dem vorgeblich autonomen
Bewusstsein und dem Gehirn erklären. Solche Mechanismen sind
völlig unbekannt. Deshalb ist der so genannte
"Leib-Seele-Dualismus" nicht plausibel und war es
in den Neurowissenschaften auch noch nie.