Zankapfel
"Bakterienmotor": Die Evolution
bakterieller Flagellen ist erklärbar
Mit
Analysen zur neu erschienenen 7. Auflage von JUNKER/SCHERER (2013)
Die
bakterielle Flagelle ("Bakterienmotor" oder
Rotationsmotor) ist eine hochkomplexe, molekulare Maschine, mittels
derer sich Bakterien wie mit einem Schiffspropeller fortbewegen
können. Kritiker zweifeln an der Evolvierbarkeit einer solchen
Struktur. Es wird behauptet, die bekannten
Evolutionsmechanismen könnten den Ursprung einer derart
komplexen Struktur nicht erklären. Nach heutigem Ermessen sei,
aus evolutionärem Blickwinkel, die
Entstehungswahrscheinlichkeit viel zu gering; die Herkunft von
Flagellen könne nur mittels eines intelligenten Planers
plausibel erklärt werden.
Nun
hat der amerikanische Biologe
Nicholas MATZKE ein durch empirisches Wissen gestütztes Modell
formuliert, das zeigt, wie in mehreren, von der Selektion
begünstigten Zwischenschritten eine funktionierende Flagelle
entstehen konnte. An diesem Modell wurde bis heute keine zureichende
Kritik formuliert. Lediglich Siegfried SCHERER, der Co-Autor von
"Evolution – ein kritisches Lehrbuch"
(2013), schrieb dazu eine Erwiderung. Er bekräftigt darin sein
Fazit: "Die Entstehung des bakteriellen Rotationsmotor ist
unbekannt".
Um
dem Leser die Bildung einer
eigenen fundierten Meinung zu ermöglichen, sollen in diesem
Beitrag SCHERERs Einwände detailliert untersucht und nach dem
aktuellen Wissensstand über den molekularen Aufbau, die
Evolution und die Vielfalt der bakteriellen Flagellensysteme beurteilt
werden. Außerdem werden die entsprechenden Kapitel zur
Flagellenevolution
in JUNKER/SCHERER (2006) und (2013) miteinander verglichen und
analysiert. Im abschließenden Kapitel wird das allgemeinere
Argument der "irreduziblen Komplexität" logisch
zurück gewiesen.
pdf-Dokument
[ca. 343 kB]
Aus
dem Inhalt
-
Einführung: Flagellen und „irreduzible
Komplexität“
-
Bau und Entstehung von Flagellen: Das Modell von Nick MATZKE
(2006)
-
Die Kritik von Siegfried SCHERER (2010) – methodologische
Reflexionen
-
Kann aus der Ähnlichkeit verschiedener
Flagellenproteine auf die Evolution des Motors geschlossen
werden?
-
Zur Entstehung und Optimierung von
Adhäsions-Proteinen
-
Mutationen am Vorläufergen
-
Eine Faltung, viele Funktionen
-
Wahrscheinlichkeitsrechnungen einmal anders
-
Mutationen am Sekretionsapparat
-
Probleme der Genregulation
-
Steht die DARWINsche Evolution der Flagellenevolution im Weg?
-
Fixierung der Loci in der Population
-
„Versteckte Teleologie“? SCHERERs Irrtum
über das Wirken von Selektion
-
SCHERERs Argumentum ex silentio: Inwieweit wird MATZKEs Modell (nicht)
in der Fachwelt diskutiert?
-
Die Neuauflage von JUNKER/SCHERER (2013) – was hat sich
gegenüber der 6. Auflage verändert?
-
Schlussbetrachtung: Warum das Argument der „irreduziblen
Komplexität“ nicht überzeugt
-
Zusammenfassung: Die Entstehung bakterieller Flagellen ist
erklärbar
-
Dank
-
Literatur
Zusammenfassung
und Ausblick
Die Autoren dieses Beitrags
zeigen, dass die
wesentlichen (wenn auch nicht alle) Hauptschritte in der
Evolution des
Bakterienmotors durch MATZKES Modell erklärt
werden können. SCHERERs
Kritik an diesem Modell erweist sich sowohl aus methodologischer als
auch aus biologischer Pespektive als nicht stichhaltig. Vieles dessen,
was er an Komplikationsszenarien entwirft, ist schlecht
begründet, in einigen Fällen sogar falsch.
Vergleicht
man die entsprechenden
Kapitel in JUNKER/SCHERER
(2006; 2013), zeigt sich ein bemerkenswerter
Rückzug von
altbekannten Positionen. Nach der Rezeption von MATZKEs Modell wurde
das "Flagellenkapitel" grundlegend verändert. Dass neuerdings
gänzlich auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen verzichtet wird,
spricht Bände. Offenbar hat man zur Kenntnis genommen, dass
Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht vernünftig sind,
solange man nicht alle möglichen und unmöglichen
evolutionären
Wege kennt.
Was
das Evolutionsmodell angeht,
so
versuchen die Autoren, es anhand der bereits in SCHERER (2010)
dargelegten Argumente zu entkräften und dessen
wissenschaftliche Bedeutung zu marginalisieren. Sie gebrauchen
dazu
ein "Argumentum ex silentio", wonach das vermeintliche Schweigen der
Fachwelt zu MATZKEs Modell als Indiz für eine ablehnende
Haltung angeführt wird. Aber abgesehen davon, dass "Schweigen"
viele Gründe haben kann:
Lässt sich einem Modell, das die Autoren offenbar dazu
nötigte, ihre Argumentation vollständig zu erneuern
und ihre wesentlichen Aussagen zu
entschärfen, wirklich mangelnde "Tragfähigkeit"
unterstellen? Hier wirken die Autoren wenig überzeugend
– vor allem, wenn man das Eingeständnis SCHERERs
(2010, 25) bedenkt, "dass die zu überwindende Lücke
[nach MATZKE] weit kleiner wäre, als von JUNKER &
SCHERER [2006] angenommen". Leider fehlt dieses Eingeständnis
in 7. Auflage ihres sehr kontrovers diskutierten "Evolutionsbuchs".
In
der Gesamtschau lässt
sich sagen, dass die
Argumentation im „Flagellenkapitel“ im Vergleich
mit den
vorhergehenden Auflagen einige positive Wendungen genommen hat.
Beispielsweise sind die Ausführungen zur "neutralen Evolution"
(S.
171–173) fachlich einwandfrei und fair in der
Gesamtbetrachtung.
Obwohl SCHERER ein fragwürdiges 10-Faktorenereignis
für
den 4. Zwischenschritt in MATZKEs Modell postuliert, wird prinzipiell
zugestanden, dass diese 10 Mutationen schrittweise durch "neutrale
Evolution" in der Population fixiert worden sein könnten
(auch wenn er Argumente anführt, die dagegen sprechen).
Entsprechend vorsichtig formuliert sind die skeptischen
Einschätzungen und Zusammenfassungen am Ende des Kapitels. Man
würde sich diesen fairen Schreibstil auch von anderen
Evolutionsgegnern wünschen. Von
einer inhaltlich rundum korrekten Darlegung und
Abschätzung der
Fakten
ist das Evolutionsbuch trotzdem um einiges entfernt. Vielleicht
ändert sich dies in einer 8. Auflage?
Überraschend
kam vor
allem folgendes
Zugeständnis aus SCHERERs Feder: Auf S. 175 findet
sich die
bemerkenswerte Aussage, man könne "aus
Erklärungsdefiziten
als
solchen keine weltanschaulichen Schlussfolgerungen ziehen, denn
vielleicht werden die derzeit durchaus massiv erscheinenden Probleme in
Zukunft befriedigend gelöst. Damit wäre das
Erklärungsdefizit behoben. Der Schluss von
naturwissenschaftlich darstellbaren Erklärungsdefiziten auf
transzendente Ursachen bei der Entstehung biomolekularer Maschinen ist
deshalb nicht ratsam." Deutlicher kann man wohl kaum an diesem
exemplarischen Beispiel dem ID-Argument eine Absage erteilen!
Unbeeindruckt von SCHERERs Empfehlung zieht Reinhard JUNKER, der
Hauptautor des Buches, diesen Schluss dennoch – und zwar in
Gestalt des so genannten "abduktiven Schlusses" (S. 336) - und steht
damit hinter SCHERERs Einsicht zurück. Dies ist ein
Beispiel dafür, dass die einzelnen Kapitel des Buchs in ihrer
Qualität recht heterogen sind. SCHERERs
vergleichsweise gut geschriebenes "Flagellen-Kapitel"
darf nicht
darüber hinweg täuschen, dass das Buch als Ganzes
noch immer methodologisch wie inhaltlich
Fragwürdiges
enthält bzw. Wissen und Glaube in ungerechtfertigter Weise
miteinander vermengt.