Wie
die Evolution aus alten Genen neue Baupläne schafft
Die
mehr als 3000 Arten von Buckelzikaden (Membracidae) bewohnen
überwiegend tropische und subtropische Lebensräume.
Sie zeichnen sich durch einen so genannten Helm aus, einen dorsalen
(d.h. rückenwärts gelegenen) Auswuchs des ersten
Brustsegments (Pronotum), der meist die ganze Oberseite des Insekts
abdeckt. Diese "kunstvollen" Gebilde sind in ihrer Form
überaus vielfältig. Sie dienen der Tarnung, der
Mimikry usw. und imitieren Stacheln, Zweige, Dornen, ja sogar
aggressive Ameisen und vieles andere. Die meisten Morphologen nahmen
an, dass es sich bei diesen Gebilden um eine
Vergrößerung des Rückenschilds handelt,
obwohl eine Minderheit der Ansicht war, es handle sich um echte
Körperanhänge, ähnlich wie
Gliedmaßen und Flügel.
Eine Autorengruppe um Benjamin
Prud'homme (Marseille) konnte nun zeigen, dass die letztere Deutung
zutrifft (PRUD'HOMME et al. 2011). Der Helm ist mit dem
Pronotum
gelenkartig verbunden, und dies zweiseitig. Er wird früh in
der Entwicklung der Tiere, im sog. Nymphenstadium, paarig angelegt. Die
Anlagen verschmelzen erst später entlang der
Rückenmitte. Da außer Flügeln keine
dorsalen Anhänge bei Insekten existieren, müsste der
Helm dem ersten von drei Flügelpaaren homolog sein, die auch
nach paläontologischen Funden zum Urbauplan der Fluginsekten
gehören. (*) Eine Reihe
von morphologischen Details
stützt diese Annahme. Das erste Flügelpaar ist
überall sonst verschwunden, seine Ausbildung wird seit rund
250 Millionen Jahren durch Hox-Gene unterdrückt. Speziell das
Gen "Sex Combs Reduced" (SCR) verhindert das Wachstum und die
Gestaltung der Flügel des ersten Brustsegments. Bei den
Buckelzikaden, und nur bei ihnen, wird die Repression umgangen, so dass
eine Innovation des Bauplans auf hohem taxonomischem Niveau
möglich wurde. Sie trat, gemessen an der Stammesgeschichte der
Fluginsekten, vor nicht allzu langer Zeit auf, nämlich vor
weniger als 40 Millionen Jahren. Die Autoren konnten nachweisen, dass
der Transkriptionsfaktor "Nubbin", der spezifisch die
Flügelentwicklung steuert, bei der Entwicklung des Helms eine
analoge Rolle spielt. (Ein Transkriptionsfaktor ist ein Protein, das
die Aktivität einer DNA-Sequenz kontrolliert.)
Zwei Gene, von denen man
weiß, dass sie die Ausbildung von
Körperanhängen steuern, spielen auch bei der
Entwicklung des Helms mit. Daher ist anzunehmen, dass dafür
das gleiche Programm genutzt wird wie für die
Flügelentwicklung. Warum SCR sie nicht mehr
unterdrückt, konnten die Autoren bis zu einem gewissen Grad
klären: Irgendwo entlang der Steuerkette downstream von SCR
(d.h. dem SCR nachgeordnet) reagiert das Entwicklungsprogramm nicht
mehr, vermutlich durch eine eher simple Veränderung eines
Regulatorgens. Damit bilden die Buckelzikaden ein Beispiel für
eine Innovation des Bauplans, die durch den Umbau der
Entwicklungssteuerung möglich wurde, und die zu einer
erstaunliche Diversität der Formen führte. Seit 40
Millionen Jahren wird das Entwicklungspotenzial des wiedergewonnenen
Körperteils sukzessive ausgelotet, indem die
unterschiedlichsten Struktur- und Steuergene in die Entwicklungskaskade
"eingeflickt" und auf ihre Auswirkung hin überprüft
wurden. Warum diese Möglichkeit bei heutigen Insekten nur
einmal realisiert wurde, ist offen. Die Autoren vermuten intrinsische
Entwicklungszwänge, die gegen die Anlage des ersten
Flügelpaars sprechen. Es könnte auch sein, dass
solche Anlagen auftreten, aber einer starken Gegenselektion
unterliegen.
Das Ergebnis belegt jedenfalls die
Fruchtbarkeit der evolutionären Entwicklungsbiologie
(Evo-Devo) und passt nicht zur Vorstellung von einem speziellen,
"intelligenten" Design der Lebewesen. Vielmehr offenbart sich aus
entwicklungsgenetischer Sicht einmal mehr das Bild
evolutionärer Flickschusterei ("tinkering"). Es zeugt von
Entwicklungszwängen einer ungesteuerten evolutionären
Ereigniskette, wonach bei Fluginsekten für das erste
Thoraxsegment das genetische Programm der Flügelentwicklung
zwar immer noch als "historisches Relikt" existiert, aber konstant
unterdrückt wird. Als Ergebnis von "Design" wäre
diese Situation unverständlich, denn nur bei den Buckelzikaden
wird das archaische Programm (sekundär wieder) genutzt. Und
nur für diese Insekten hat sich dadurch ein neuer
evolutionärer Entfaltungsraum eröffnet. Nicht mehr
ausgeführte, aber weiter existierende und vermutlich
für die Entwicklungssteuerung nötige Programme sind
inzwischen vielfach bekannt. Ein eindrückliches Beispiel ist
das Programm für Zahnanlagen bei Hühnern (HARRIS et
al. 2006). Es gibt eine Hühnermutante, die
talpid2-Hühner, bei denen das seit über 60 Millionen
Jahren abgeschaltete und "verschüttete" Programm zur
Zahnbildung wieder reaktiviert wird, in den Embryonen lassen sich
reguläre Zahnanlagen nachweisen. Allerdings wurde, im
Unterschied zu den Buckelzickaden, dieses Programm bei den
Vögeln nie zum Ausgangspunkt einer evolutionären
Innovation.
Literatur
HARRIS, M.P. et al. (2006) The development of archosaurian
first-generation teeth in a chicken mutant. Current Biology 16,
371-377.
www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/.../wissenschaft/0208/index.html
PRUD'HOMME, B. et al. (2011) Body plan innovation in treehoppers
through the evolution of an extra wing-like appendage. Nature 473,
83-86.
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Fußnoten
Die ab dem mittleren Karbon fossil auftretenden Palaeodictyoptera (z.B.
Stenodictya) wiesen neben zwei funktionalen Flügelpaaren ein
Paar
flügelähnliche Fortsätze des ersten
Thoraxsegments auf,
die als den Flügeln homolog angesehen werden. Die
Insektengruppe
starb im späten Perm aus.