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Kommentar
Lönnig, Utricularia und die Philippika
eines Unbelehrbaren
Warum
die Schriften W.-E. Lönnigs nirgends ein Niveau erreichen, das
einen rationalen Dialog ermöglicht
Im
ersten Teil des 9. Kapitels des Buchs "Evolution im Fadenkreuz des
Kreationismus" (2009, Hg. Martin NEUKAMM,
Neukamm
2009, 239-250) widmet
sich der Herausgeber der Evolution der Saugfalle der fleischfressenden
Pflanze Utricularia
vulgaris. (Titel: "Was die Selektion angeblich
nicht leisten kann: Diskussion von drei Paradebeispielen"). Er legt
darin detailliert dar, warum die evolutive Entwicklung der Saugfalle
des Wasserschlauchs Utricularia
zwar spannend und nach wie vor eine
harte Nuss für die Evolutionsforschung ist, aber mitnichten in
ein Argument für einen übernatürlichen
Ursprung, ein "intelligentes Design" umgemünzt werden kann,
wie es Dr. W.-E. LÖNNIG, "Zeuge Jehovas" und
Langzeit-Kreationist, zu zeigen beabsichtigt. NEUKAMM legt insbesondere
anhand zahlreicher
intermediate forms dar, warum die Behauptung,
höher entwickelte Fallentypen müssten durch eine
simultane
(und somit äußerst unwahrscheinliche)
Synorganisation aller
für die Funktion erforderlichen
Bauelemente evolviert sein, falsch ist. Nun ist gerade diese Saugfalle
W.-E. LÖNNIGs Lieblingsbeispiel für angebliche
Nicht-Evolvierbarkeit komplexer Strukturen, und so hat er, wie nicht
anders zu erwarten, im Rahmen eines 190-seitigen (!) Opus geantwortet
(
Lönnig
2010). Was ist dazu zu sagen?
Eigentlich nichts, denn alles, was
hierzu zu sagen ist, wurde bereits mehrfach gesagt und LÖNNIG
hat auch dieses Mal alle Fakten und Argumente gegen "Intelligent
Design" ignoriert. Und er beweist in jedem Satz, dass er die Methoden
des naturwissenschaftlichen Arbeitens und Argumentierens nicht
verstanden hat. Sachargumente und Tatsachen werden mit Falschaussagen,
Halbwahrheiten, weltanschaulichen Interpretationen und haltlosen
Unterstellungen geradezu systematisch vermengt. Um es in den Worten von
HEMMINGER (2007, 25) zu sagen: "Seine Schriften erreichen nirgends ein
Niveau, das eine wissenschaftliche Diskussion möglich machen
würde und zeichnen sich durch besondere Häme gegen
andere Wissenschaftler aus".
Auch in diesem Text vergreift sich
LÖNNIG wieder derart massiv im Ton, dass man sich fassungslos
fragt, ob er überhaupt eine Kinderstube genossen haben mag.
Zitat:
"Vgl.
auch den persönl.
Kommentar eines erfahrenen Botanikers an W-EL vom 30. 3. 2010 zu MNs
Polemik unter (101) ff.: …Wer auf diese Art und Weise
Menschen angreift, um eine Sache zu retten, beweist seine
intellektuelle Inkompetenz und sein moralisches Vakuum. MN hat in allen
seinen Ausführungen in dieser Arbeit schriftlich unter Beweis
gestellt, dass es ihm in dieser Diskussion an Sachwissen und
ausreichendem Denkvermögen fehlt. Dazu kann er auch mit
dringend erforderlichen Tatsachen für seine Behauptungen und
Geschichten nicht aufwarten. Nun stellt er auch noch unter Beweis, dass
es ihm obendrein an Charakter und genügendem Anstand fehlt. MN
steht sozusagen mit dem Rücken zur Wand, wohlwissend, dass er
wissenschaftlich nichts zu bieten hat. Das ist ja gerade der Grund
seiner Ohnmacht. Deswegen meint er, mit den Mitteln, die gegen Personen
gerichtet sind, Terrain zu verteidigen und dann folgt das
Übliche: Diskreditierung, Herabsetzung, Beleidigung usw.
… Es ist diese Art der Argumentation, die eine
Sachdiskussion über Schöpfung oder Evolution
ungeheuer erschwert oder unmöglich macht."
Diese wie im Selbstbewusstsein
eines überlegenen Forschers vorgebrachte Bewertung (die sich
LÖNNIG, passend
zu seiner Psychografie, wahrscheinlich komplett aus den
Fingern sog) ist um so
erstaunlicher, als dass uns kein einziger in der
Wissenschaft ausgewiesener Karnivoren-Fachmann bekannt ist, der seine
Ansichten als prinzipiell diskussionswürdig oder potenziell
fruchtbar
wertet. Dem renommierten Karnivoren-Spezialisten W.
BARTHLOTT jedenfalls fiel zu LÖNNIGs Elaboraten nichts
Positives ein. Er bemerkte
lapidar (E-Mail vom
01.04.2010 an MN):
"Ihnen selbst und mir sollte
diese Zeit zu schade sein, auch nur 10 Min. in einer Antwort zu
investieren. Stecken
Sie das ganze Zeug in den
Papierkorb und vergessen Sie es!"
Dieser Fall zeigt
besonders
deutlich,
wie krass
Selbst- und Fremdeinschätzung in LÖNNIGs Fall
divergieren. Er sitzt im Glashaus und bewirft seine Gegner mit
Steinen. Dabei hat er es in seiner fast 30-jährigen Karriere
als Senior Scientist, laut Web of Science, auf magere sieben
Paper als Erstautor gebracht, und kein
einziges davon war von Bedeutung für die
Evolution der Karnivoren.
Aufschlussreich
ist in diesem
Zusammenhang auch der
Bericht
eines
Dozenten an der Fakultät für Biowissenschaften der
Universität Witten/Herdecke. Dieser Kommentar fällt
wissenschaftlich noch vernichtender aus, völlig
konträr zu LÖNNIGs eigener Auffassung
("…wurden von
den
Zuhörerschaften allgemein als wertvolle wissenschaftliche
Beiträge zur Wahrheitsfindung ...
angesehen").
Selbst das Direktorium des
Max-Planck-Instituts, an dem LÖNNIG
beschäftigt war, distanzierte sich in einer
öffentlichen Erklärung von dessen
Intelligent-Design-Schrifttum (
MPIZ
Köln: Distanzierung!).
Nachdem LÖNNIG seine wissenschaftlich unhaltbaren Ideen zu ID
jahrelang über den Institutsserver verbreitet hatte, musste er
schließlich mit diesen Inhalten auf seine private Homepage
umziehen: Nach Angaben des geschäftsführenden
Direktors Paul SCHULZE-LEFERT werde nur noch eine "massiv
entrümpelte" Seite geduldet, da man sich sonst
"lächerlich gemacht" hätte (
Willmann
2003). Muss man
zu dieser Thematik noch mehr sagen? Stil und Gehalt von
LÖNNIGs Texten sowie die Tatsache, dass er alle vorgebrachten
Argumente einfach ignoriert, machen eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung unfruchtbar und sinnlos. Im Gegensatz dazu
genießt der von M. NEUKAMM herausgegebene Sammelband auch
unter Wissenschaftlern und Wissenschaftsphilosophen
Wertschätzung, s. z. B.
Prof.
Dr. Dr. Gerhard VOLLMER. Der
Leser mag selbst entscheiden, ob dies für die von
LÖNNIG angeprangerte "intellektuelle Inkompetenz" NEUKAMMs
spricht.
Cartoon nach Tony AUTH, verändert.
Eine
letzte Bemerkung zum
Thema "Ohnmacht": Wir, das heißt die AG EvoBio,
stützen uns in unseren Texten inhaltlich auf Hunderttausende
wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus der Bereich
Evolutionsbiologie und wissen auch die übrige
naturwissenschaftliche Forschung, gleich ob Physik oder Chemie, hinter
uns. Kreationisten haben nichts dergleichen vorzuweisen, sie
unterhalten keine Arbeitsgruppen und Labors, machen keine eigene
Forschung und veröffentlichen keine wissenschaftlichen
Publikationen. Stattdessen bringen Sie ihre Ideen über das
Internet, christliche bzw. fachfremde Verlage oder im Eigenverlag unter
die Leute. Ist nicht genau
das Ausdruck inhaltlicher Ohnmacht? Und was
"Diskreditierung, Herabsetzung, Beleidigung" anbelangt, möge
der Leser unsere Texte mit denen LÖNNIGs vergleichen und sich
selbst ein Urteil bilden.
Abgesehen von der oben zitierten
Entgleisung spart LÖNNIG auch
sonst nicht
mit Polemik. Er wirft z.B. NEUKAMM mehrfach das
absichtliche Verbreiten "falscher Tatsachen" vor. Wieder gehen dabei
selektiv aufbereitete Sachargumente, Verdrehungen, weltanschauliche
Äußerungen und Halbwahrheiten Hand in Hand. Und
wieder überrollt LÖNNIG den Leser reihenweise mit
Zitaten, viele davon unbelegt oder sachfremd. Bereits das erste
anti-evolutionistische Zitat im Text (von Richard SMALLEY, Nobelpreis
für Chemie 1996) ist nicht belegt und zudem die
Privatäußerung eines Wissenschaftlers, der auf
evolutionsbiologischem Gebiet kein Fachmann ist. Mehrmals bereits wurde
LÖNNIG erklärt, dass sich aus solchen
"Autoritätsbeweisen" kein folgerichtiges Argument ableiten
lässt: Bei Magenschmerzen wird auch er vermutlich nicht zum
Optiker gehen, ebenso wenig wie er bei Computer-Problemen den Klempner
rufen wird, und sei jener auch ein noch so genialer Handwerker.
Allerdings scheint Kritik an diesem Fehler von LÖNNIG
abzuperlen wie Wasser von einem Lotusblatt. Wozu also immer und immer
wieder sie selben Fehler monieren, wenn LÖNNIG die Argumente
ignoriert?
Und wieder diskutiert
LÖNNIG am Kern des
Themas vorbei: In
besagtem Kapitel versucht NEUKAMM selbstverständlich nicht,
die Evolution der Saugfalle in allen Details nachzuvollziehen, es ging
ihm vielmehr darum nachzuweisen, dass der angeblich erforderliche
"Riesenschritt" in der Evolution von Utricularia Fiktion
ist, weil eben
zahlreiche funktionale Zwischenformen existieren. Und wieder reagiert
LÖNNIG mit dem ebenso durchschaubaren wie sachlich falschen
Trick: Konnte man endlich, wie
jahrelang von ihm selbst gefordert, ein
Modell präsentieren, welches die Kluft zwischen Organismus A
(z. B. ein Präkarnivor) und B (Utricularia)
konstruktiv durch
funktionale Modellorganismen X, Y, Z…
überbrückt, so stempelt er dieses einfach zur
"Phantasie-Geschichte", verändert den Blickwinkel, zoomt
sozusagen in den Stammbaum hinein und behauptet nun mit derselben
felsenfesten Überzeugung, es existierten nun statt einer
Lücke gleich mehrere
"unüberbrückbare"
Klüfte. Kurz: der Kreationist freut sich über
"Lücken", spricht von "missing links" (fehlenden
Zwischenformen), und wenn nun genau solch eine Zwischenform gefunden
wird - sei sie fossil, sei sie eine noch lebende Modellform - so freut
sich nicht nur der Evolutionswissenschaftler, sondern abermals der
Kreationist: Hat er doch jetzt zwei
Lücken, auf die der
verweisen kann. Ein Spiel, das sich unendlich weiter treiben
lässt. Doch von der Notwendigkeit eines einzigen,
riesengroßen Entwicklungsschritts, wie ihn Nachtwey noch
forderte, ist freilich längst nicht mehr die Rede: Dieses
Argument lässt LÖNNIG, verdeckt durch rhetorische
Kniffs, stillschweigend unter den Tisch fallen. Für den
praktisch tätigen und seine Wissenschaft reflektierenden
Forscher ist diese Art von Argumentation um so eigentümlicher,
als für ihn Wissenschaft ja hauptsächlich aus zu
schließenden Lücken besteht (sonst
bräuchten wir nicht mehr zu forschen!). Ferner ist es eine
Binsenweisheit, dass jede geschlossene Lücke weitere Fragen
aufwirft, auf einer tiefer liegende Ebene
allerdings…
Und wieder wendet sich
LÖNNIG an das falsche Publikum: Wenn
tatsächlich
belastbare Daten und schlüssige Argumente
vorlägen, warum veröffentlicht er sie dann
für ein Laien-Publikum im Internet, weshalb hat er sie nicht
längst in Fachjournalen publiziert und damit wissenschaftlich
zur Diskussion gestellt? Die Antwort ist einfach: Weil es keine solchen
Daten und Argumente gibt!
Während NEUKAMM auf
Erkenntnisse von Karnivoren-Experten
zurückgreift (deren Rat und Rückmeldung er eingeholt
hat) und auf gesichertes biologisches Wissen rekurriert, kann sich
LÖNNIG auf
keine einzige wissenschaftliche Arbeit berufen, in
der gezeigt wurde, dass die Saugfalle nicht evolviert sein
kann.
Also
bemüht er wieder das sattsam bekannte argumentum ad
ignorantiam, das der naturwissenschaftlichen Denkart und
Herangehensweise an Probleme grundsätzlich
widerspricht.
Wenn LÖNNIG
tatsächlich ein wissenschaftliches
Interesse an der Evolution der Saugfalle hat, warum hat er dann in all
den Jahrzehnten seiner Genetiker-Laufbahn - mit der Infrastruktur eines
renommierten und gut ausgestatten Max-Planck-Instituts im
Rücken! - keine Forschungsanträge gestellt, die
Genetik der Saugfallenentwicklung untersucht und mit derjenigen anderer
Mitglieder der Familie verglichen? Warum hat er nicht erforscht, welche
Gene für die Ausbildung welcher Fallentypen verantwortlich
sind und durch vergleichende Analysen Rückschlüsse
auf die Entstehungsmechanismen gezogen? Vielleicht ist die Antwort ja
überaus simpel, und LÖNNIG interessiert sich nicht
für evolutionsbiologische Fragen sondern ist vollauf damit
zufrieden, Entstehungsmechanismen nicht zu verstehen, um
Schöpfung proklamieren zu können. Nun, echte
Evolutionsbiologen jedenfalls möchten das verstehen! Sie
möchten, um es in den Worten von Michael SHERMER (2000)
auszudrücken, wissen,
"...
ob ID Telekinese oder
irgendeine andere geheimnisvolle Kraft
verwendet, um die Teile zusammenzubringen. Aber die
ID-Anhänger behaupten, dass sie sich nicht darum
kümmern, wie ID das machte. Alles, was zählt, ist,
dass Er (oder Sie oder Es) das machte. "ID funktioniert auf wundersame
Weise". Was für eine bemerkenswert unwissenschaftliche
Haltung. Was für ein erstaunlicher Mangel an Neugier
über die Welt."
LÖNNIGs Weltanschauung
steht offenbar
einer rationalen, wissenschaftlichen Forschung in denjenigen Bereichen
von vornherein dort im Wege, wo deren Erkenntnisse mit ihr in Konflikt
geraten. Er scheint, so wie alle Evolutionsgegner, völlig
damit zufrieden zu sein, den Evolutionsprozess nicht zu verstehen,
um
Wunder postulieren zu können - das aber führt das
Programm und die Methodik der Naturwissenschaften ad absurdum. Solide
naturwissenschaftliche Modellbildung kann hier wohl nur
stören. Alle avancierte Forschung - nicht nur die zu komplexen
Systemen - benötigt im Übrigen kritische und
sorgfältige Modellbildung; wer dies ablehnt, weil Modelle
immer mit Vereinfachungen, d.h. Vernachlässigung von Details,
einhergehen (sonst wären sie keine Modelle!), der koppelt sich
aus dem gesamten neuzeitlichen naturwissenschaftlichen
Verstehensprozess aus.
Um noch einmal SHERMER (a.a.O.) zu
bemühen: "Es ist kein
Zufall, dass so gut wie alle ID-Befürworter Christen sind. Das
ist unvermeidlich. ID-Argumente
sind Gründe zum Glauben, wenn
Sie schon glauben. Wenn sie das nicht tun, sind
ID-Argumente nicht
vertretbar." Und so beweisen LÖNNIGs Repliken
regelmäßig aufs Neue, dass er weder die
Grundprinzipien wissenschaftlicher Modellbildung und
Theorienprüfung noch die elementaren Zusammenhängen
des Evolutionsprozesses verstanden hat noch akzeptiert. (Details hierzu
u.a. in den Arbeiten von NEUKAMM, siehe Literaturverzeichnis).
Da es grundsätzlich
keinen Sinn ergibt, eine Diskussion
fachspezifischer Detailfragen auf der Basis tief ansetzender,
grundsätzlicher Missverständnisse führen zu
wollen, wird sich die AG Evolution in Biologie, Kultur und
Gesellschaften zu LÖNNIG künftig
nicht mehr
äußern; was zu sagen ist, wurde gesagt
(s.
Auflistung unserer Texte unter Literatur). Da LÖNNIG die
üblichen Rationalitätsstandards im Diskurs ignoriert,
kann kein vernünftiger Dialog zustande kommen; es bleibt es
beim Austausch emotiver Bekenntnisse. Ungeachtet dessen hat sich
NEUKAMM ein letztes Mal die Mühe gemacht, exemplarisch an
einigen wesentlichen Punkten aufzuzeigen, welche grundlegenden Defizite
LÖNNIGs Argumentation nach wie vor aufweist (
Neukamm
2010).
Im Rahmen seiner Abhandlung hat
NEUKAMM insbesondere folgende Punkte
herausgearbeitet:
1. Zielsetzung des Buchs
LÖNNIG unterstellt
NEUKAMM das absichtliche Verbreiten
"falscher Tatsachen" - ein Vorwurf, der einer
Überprüfung nicht standhält. Die meisten
Vorwürfe wurden schlichtweg konstruiert oder glatt erfunden,
so z. B. die Behauptung über NEUKAMMs Buch: "The real message
is that there is no God, that he is unnecessary". Dieser
Satz ist
keineswegs zutreffend, denn erstens findet sich im ganzen Buch keine
einzige Passage, die auf solch eine Intention schließen
ließe. Zweitens erschien das Buch in einem renommierten
christlichen Verlag, was kaum hätte der Fall sein
können, wenn LÖNNIGs Unterstellung zuträfe.
Drittens sind mehrere Autoren Christen, und das Buch erhielt sogar
einen Druckkostenzuschuss vom Oberkirchenrat Stuttgart. In Wahrheit
geht es in diesem Buch unter anderem um die Frage, ob ein Grund
besteht, als Erklärung in die empirischen Wissenschaften
teleologische, übernatürliche Faktoren
einzuführen; das ist nicht der Fall, und zwar in keiner
einzigen Naturwissenschaft.
2.
Folgerichtigkeit der
evolutionstheoretischen Argumentation
LÖNNIG verkennt
die Logik
evolutionsbiologischer Forschung:
Mitnichten wird einfach im Sinne eines Zirkelschlusses das
vorausgesetzt, was erst bewiesen werden soll - die gemeinsame
Abstammung der Arten. Die Analyse der beobachteten
Ähnlichkeiten entspricht vielmehr der Stichhaltigkeit eines
Vaterschaftstests: Die für den Schluss erforderlichen
Prämissen werden nicht vorausgesetzt, sondern stützen
sich auf Mechanismen und Grundannahmen, die unabhängig
von der
Evolutionstheorie überprüfbar und empirisch wohl
bestätigt sind. Das der evolutionären Interpretation
zugrunde liegende Prinzip entspricht der hypothetisch-deduktiven
Methode, die in allen Naturwissenschaften Anwendung
findet.
3. Die
Frage nach dem "ob", nach dem "wie" und nach den Details
Unabhängig von der Frage,
wie die Saugfalle von Utricularia
vulgaris im Detail evolvierte, weiß man eine
ganze Menge
über diese Pflanze und ihre Verwandten, und zwar genug, um die
Annahme einer evolutiven Entwicklung zu rechtfertigen. Die Frage nach
dem "ob" ist
also logisch völlig unabhängig und
getrennt von der Frage nach dem "wie"
zu behandeln.
4. Was
leisten
evolutionsbiologische Modelle über Utricularia & Co?
Entgegen LÖNNIGs
Behauptung geht es in dem von ihm
kritisierten Buchabschnitt nicht
um die Behauptung, die Einzelschritte
in der Evolution von Utricularia
seien (womöglich
lückenlos) erklärt. Die Argumentation konzentriert
sich im Kern vielmehr darauf, dass Fallentypen, die einfacher gebaut
sind als die Falle von Utricularia,
trotzdem funktionieren und durch
die Selektion positiv bewertet werden können, so dass die
Notwendigkeit einer simultanen
Synorganisation aller
für die
Funktion der Saugfalle von Utricularia
erforderlichen Teile
entfällt.
Lückenlose
Erklärungen für konkrete,
komplexe Objekte gibt es im Übrigen so gut wie nirgendwo in
der Naturwissenschaft. Man kann beispielsweise die Entwicklung der
Sterne inzwischen sehr gut nachvollziehen. Dennoch wäre es
hoffnungslos, in jedem Detail erklären zu wollen, wie die
Sonne in exakt der Art, wie sie zurzeit besteht, zustande kam. Kein
Astrophysiker kommt jedoch auf die Idee, hier
übernatürliche Kräfte zu postulieren.
Selbiges gilt für praktisch jedes beliebige Objekt, gleich ob
es sich um einen einfachen Feldstein oder einen Termitenstaat
handelt.
5.
Irreduzible Komplexität?
LÖNNIGs Behauptung, dass
bei komplizierten Merkmalen (z. B.
Fallentypen) erst im Endstadium ein Nutzen gegeben sei, lässt
sich empirisch wie auch theoretisch widerlegen. Der
gegenwärtige Funktionszustand eines Systems sagt wenig
darüber aus, welche früheren Zustände das
System durchlaufen hat oder durchlaufen haben kann. Insbesondere
ignoriert LÖNNIG notorisch das wohlbekannte Prinzip des
Funktionswechsels. In dem genannten Fall (und einigen anderen
Fällen) war die Natur "freundlich genug", einige Etappen jener
vielschichtigen strukturellen und funktionellen Veränderungen,
die das System während seiner Evolution durchlief, in Gestalt
von intermediärer Formen unterschiedlicher
Komplexitätsgrade zu überliefern. Damit sind die
Einwände hinfällig.
6.
"Falsche Tatsachen"?
Etliche von LÖNNIGs
Behauptungen, die Spezies Roridula,
Byblis, Sarracenia
purpurea und Heliamphora
tatei betreffend (es geht
um direkte und indirekte Karnivorie sowie um Verwandtschaftsgrade),
sind ganz einfach sachlich falsch. Z. B. ist die Unterstellung, NEUKAMM
behaupte, Heliamphora
tatei sei primitiv und produziere keine Enzyme,
nicht belegbar. Roridula
kann auch nicht mithilfe von Phosphatasen
tierische Beute verdauen, wie LÖNNIG seinen Lesern suggeriert,
sondern ist auf die Existenz von Symbionten angewiesen. Diese sehr
passive Form der Karnivorie lässt sich als
evolutionär vermittelnde, also intermediäre Form
interpretieren und dürfte nach LÖNNIG gar nicht
existieren!
7.
Angebliche "Funktionswidrigkeit" zahlreicher
hypothetischer Zwischenformen
Selbiges wird von LÖNNIG
immer nur behauptet, aber an keiner
Stelle durch empirische Befunde, Simulationsversuche o. ä.
nachgewiesen (eigene Forschung hierzu betrieb er sowieso zu keiner
Zeit). Wäre die Argumentation stichhaltig, dann
dürften zahlreiche real existierende Formen gar nicht
existieren, weil sie nach LÖNNIGs Logik nicht funktionieren
dürften. Hiermit in gewisser Weise vergleichbar sind
unbewegliche Varianten von Escherichia
coli in Umweltproben - also
Zellen, die ihre Flagellen verloren haben, die aber trotzdem
überleben. Mit anderen Worten: Was vorgeblich alles nicht
funktionieren kann, entspringt allein LÖNNIGs Vorurteilen. Die
Vermutung liegt nahe, dass sich diese primär aus den
weltanschaulichen Vorgaben der "Zeugen Jehovas" speisen (nach der Art:
"Evolution kann nicht
funktionieren, weil sie nicht funktionieren darf,
und darum bemühen wir uns gar nicht erst, adäquate
Erklärungsmodelle zu finden").
8. Synthetische
Evolutionstheorie
LÖNNIG hat sie
ganz
offensichtlich nicht verstanden. Entgegen
seiner Behauptung können ursprüngliche und
abgeleitete Formen ebenso wie verschiedene Rassen, Subspezies und Arten
unterschiedlicher Komplexität problemlos koexistieren, sofern
der Konkurrenzdruck nicht überhand nimmt oder (wie bei vielen
invasiven Arten zu beobachten) der differenzielle Fortpflanzungserfolg
einer bestimmten Form in einer bestimmten ökologischen Nische
so überhand nimmt, dass alle anderen Spezies aus dem Rennen
geworfen werden.
9. Merkmals- und Artenkonstanz
Die Konstanz zahlreicher Merkmale,
Merkmalskomplexe und Arten wird,
ebenso wie die "Mosaikevolution" und das Auftreten von Heterobathmie,
teils durch den kladogenetischen Aspekt der Evolution, teils durch
"developmental constraints" erklärt. Wie so häufig
stützen sich LÖNNIGs Einwände auf
antiquierten oder gar völlig falschen Grundannahmen, die von
einer unzureichenden Kenntnis der (modernen) Evolutionstheorie(n)
zeugt.
10. Evo-Devo
Die Erklärungsmodelle der
evolutionären
Entwicklungsbiologie stehen - anders als LÖNNIG glauben machen
will - nicht im Widerspruch zur Synthetischen Theorie der Evolution,
sie sind eine Ergänzung und zeigen auf, wie Selektion auf
verschiedenen Ebenen wirkt. Gleiches gilt (ungeachtet der Evidenz, die
zur Zeit dafür oder dagegen spricht) für Theorien,
welche die evolutive Rolle von Transposonen und genomreorganisierenden
Elementen thematisieren, für systembiologisch akzentuierte
Denkansätze usw. Die Synthetische Theorie der Evolution ist
ein offenes Theoriengebäude, in das sich
entwicklungsgenetische, mechanische und andere Faktoren ohne
Schwierigkeit integrieren lassen. Das bedeutet keine Immunisierung der
Theorie, sondern ist das Kennzeichen eines leistungsfähigen
Konzepts und in der Wissenschaft nichts Ungewöhnliches;
Gleiches gilt etwa auch für die breite Anwendung
quantenmechanischer Grundansätze (z. B. die
Unschärferelation) oder die relativistische Physik (z. B.
Kovarianz).
11.
LÖNNIGs Stil und Argumentationsweise
Eine ganze Reihe von
LÖNNIGs Behauptungen werfen tiefgreifende
Fragen auf. So behauptet er immer wieder (und darauf läuft
faktisch jeder seiner Texte hinaus) "…die Daten, die wir
heute haben, haben der Evolutionstheorie den Todesstoß
versetzt". Dies kann er allerdings nicht mit Fakten und
Daten aus der
wissenschaftlichen Literatur untermauern. Im Gegenteil lebt und
floriert
die Evolutionsbiologie in der "Scientific Community" erfolgreicher denn
je, und der Evolutionsgedanke durchdringt viele Bereiche der
Naturwissenschaft und der Philosophie, Soziologie usw. Die Lehre vom
"Intelligent Design" hat hingegen keinerlei wissenschaftliche Erfolge
vorzuweisen und wird von denen, die faktisch und praktisch Wissenschaft
betreiben, abgelehnt oder wegen ihrer mangelnder Fundierung und ihres
grundsätzlichen Widerspruchs zur wissenschaftlichen Denkweise
ignoriert. Zu LÖNNIGs publizistischem Umgangsstil ist bereits
Hinlängliches gesagt worden; dem Leser sei beispielsweise der
Kommentar von HEMMINGER (2009) empfohlen.
Texte
über W.-E. LÖNNIG
BEYER, A.; NEUKAMM, M. (2007) Kommentar zu W.-E. LÖNNIGs
Seminar
an der Universität Witten/Herdecke. Ein Dozent an der
Fakultät für Biowissenschaften berichtet.
http://ag-evolutionsbiologie.net/html/2007/loennig_witten.html
Die Direktoren des MPIZ Köln (2006) MPIZ: Distanzierung.
http://ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2007/laborjournal_mpiz.pdf
GUTMANN, M.; Warnecke, W. (2008) "Anything goes", Herr LÖNNIG?
Zur
Frage, ob "Intelligent Design" wissenschaftliche Antworten liefert.
http://ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2008/loennig+AG.pdf
HEMMINGER, H. (2007) Mit der Bibel gegen die Evolution. Kreationismus
und "intelligentes Design" - kritisch betrachtet. EZW-Text Nr. 195,
Stuttgart.
www.reformiert-info.de/1615-0-8-2.html
HEMMINGER, H. (2009) Feinde Gottes und der Menschen -
Evolutionsbiologie aus der Sicht von W.-E. LÖNNIG.
http://ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2009/Loennig_Kommentar_HH.pdf
NEUKAMM, M. (2007) Neues zum Birkenspanner Biston betularia.
http://ag-evolutionsbiologie.net/html/2007/biston.html
NEUKAMM, M. (2010) Eine unendliche Geschichte: Dr. W.-E.
LÖNNIG,
Intelligent Design und die Saugfalle der Pflanze Utricularia vulgaris.
Die Evolution der karnivoren Pflanzen: Was die Selektion in vielen
Einzelschritten zu leisten vermag.
www.martin-NEUKAMM.de/loennig-utricularia.pdf
NEUKAMM, M.; BEYER, A. (2007) Die Affäre Max Planck.
Über die
fragwürdigen Diskursmethoden eines Evolutionsgegners. In:
KUTSCHERA, U. (Hg.) Kreationismus in Deutschland. Münster,
232-276
SHERMER, M. (2000) ID funktioniert auf wundersame Weise. www.waschke.de/twaschke/artikel/id/SHERMER.htm
WILLMANN, U. (2003) Entwürfe in Gottes Namen. DIE ZEIT, Nr. 19
(Ausgabe vom 30.04.2003).
www.zeit.de/2003/19/Kreationisten
Autoren:
Andreas Beyer / Rudolf Jörres
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
31.05.2010