Rezension

Martin Neukamm (Hg.) Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus

Darwins religiöse Gegner und ihre Argumentation. Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 400 S., € 39,90

         

"Seit mindestens 30 Jahren suche ich nach einem Buch, in dem die Evolutionstheorie argumentativ dargelegt wird und typische Nachfragen, insbesondere kreationistische Einwände, beantwortet werden." Das hatte ich in einer Sammelrezension "Darwin und die Folgen" gerade geschrieben (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Dezember 2009). Den zweiten Wunsch erfüllt das Buch von Mark Isaak: The counter-creationism handbook. Westport: Greenwood Press 2005; paperback 2007, das 400 (!) Einwände behandelt. Doch die Erfüllung meines Wunsches nach einer argumentativen Darstellung der Evolutionstheorie schien auf sich warten zu lassen.

Da bekam ich das Buch von Martin Neukamm. Wie schön: So ist auch der erste Wunsch in Erfüllung gegangen! Entgegen dem Untertitel handelt es nämlich nicht von Darwin und seinen historischen Gegnern; geführt wird hier vielmehr eine Auseinandersetzung mit Kreationismus und Intelligent Design heute.

Zu diesem Thema ist schon 2007 ein Sammelband erschienen: Ulrich Kutschera (Hrsg.): Kreationismus in Deutschland. Fakten und Analysen. LIT-Verlag, zu dem Martin Neukamm ebenfalls umfangreiche Beiträge geliefert hat. Was hat ihn veranlasst, ein weiteres solches Buch herauszugeben? Offenbar schien ihm der genannte Band zu inhomogen. Gewiss, die Autoren dort sind überaus kompetent, und die Beiträge sind hervorragend; aber sie hängen nicht zusammen, nehmen nicht aufeinander Bezug. Deshalb bietet jener Band auch keine systematische Auseinandersetzung auf fachlicher und philosophischer Ebene.

Jetzt haben wir ein Buch vor uns, von dem man sagen kann, es sei "aus einem Guss", soweit das bei insgesamt acht Autoren überhaupt möglich ist. Erreicht wird das vor allem dadurch, dass der Herausgeber Martin Neukamm, Chemieingenieur an der TU München und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Evolutionsbiologie im Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland, selbst sehr viel zu seinem Buch beitragen hat, nämlich fast die Hälfte! Neben mehreren Artikeln gehört dazu der gesamte Anhang: ein hervorragendes Glossar von 19 Seiten und ein besonders sorgfältiges Namens- und Sachregister von 12 Seiten mit rund 1000 Eintragungen! Und unter www.evolution-im-fadenkreuz.info gibt es im Netz Ergänzungen, Erläuterungen und Antworten auf Einwände von Kreationisten.

Für wen ist das Buch geschrieben? Nach dem Vorwort "für Schüler, Lehrer, Biowissenschaftler, aufgeklärte Christen, Journalisten und alle, die sich mit dem Kreationismus auseinandersetzen wollen oder müssen". Die Philosophen sind hier offenbar vergessen, geht es doch im ganzen Kapitel II um die Frage, ob Kreationismus eine Wissenschaft ist oder eher eine Pseudowissenschaft, in Kapitel III um "Die Evolutionstheorie als Ziel wissenschaftstheoretischer Kritik", später mehrfach um die Argumentationsmethoden, die von Evolutionsgegnern angewandt werden, und natürlich auch um jene, die von Evolutionsbiologen angewandt werden sollten.

Kreationisten haben es leicht. Während der Evolutionsbiologe mühsam Spuren sucht und deutet, um die evolutionären Prozesse im Allgemeinen und den konkreten Verlauf der Evolution im Besonderen zu erkunden und zu erklären, hat der Kreationist auf jede Frage nach dem Warum stets dieselbe Antwort bereit: "Das hat eben Gott so eingerichtet. Er tat das, weil er es so wollte und weil er alles, was er will, auch tun kann." Ist der Kreationist nicht zu beneiden? Ist es nicht verlockend, auf alle Fragen eine Antwort zu haben, und sogar immer dieselbe Antwort geben zu können? Und dabei auch noch unwiderlegbar zu sein? Denn wer könnte die Existenz Gottes widerlegen? (Wenn dann allerdings die Bibel wörtlich genommen werden muss, dann quält sich auch der Kreationist, um Vereinbarkeit mit Geologie und Biologie vorgaukeln zu können.)

Beneidenswert? Nein! Die vermeintliche Stärke des Kreationismus ist - wissenschaftslogisch gesehen - seine größte Schwäche. Denn wenn es nicht nur um fertige Antworten geht, sondern um wahre Antworten, dann kann der Kreationist auf nichts verweisen. Angenommen nämlich, seine Antwort ist falsch - wie könnte man das jemals herausfinden? Gar nicht! Es gibt keinen denkbaren Befund, der ihn widerlegen könnte. Können aber falsche Thesen nicht als falsch erkannt werden, dann können sie auch nicht beseitigt und durch bessere oder gar wahre ersetzt werden! Dann gibt es nicht einmal ein Motiv, nach einer besseren Theorie zu suchen. Das ist irrational und führt zu Dogmatismus und Fanatismus, den schlimmsten Feinden von Aufklärung und Toleranz.

Evolutionsbiologen haben es da viel schwerer. Sie müssen ein dickes Buch schreiben, um wenigstens ein paar Dämme gegen die kreationistische Flut zu errichten.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Nach geschichtlicher Einführung (Hemminger) und wissenschaftstheoretischen Überlegungen (Neukamm/Beyer) in Teil 1 führt Teil 2, der zugleich der umfangreichste ist, die entscheidende Auseinandersetzung mit den biologischen bzw. antievolutionistischen Argumenten. Wir nennen hier nur die Themen bzw. die biologischen Fachgebiete, die in diesen äußerst lehrreichen Aufsätzen zur Sprache kommen: Zufall und Wahrscheinlichkeit (Neukamm); Stammesgeschichte und phylogenetische Systematik (Neukamm); evolutionäre Entwicklungsbiologie (Evo-Devo, Hemminger/Beyer); chemische Evolution (Kaiser); Makroevolution und Komplexitätswachstum (Neukamm); angebliche Gegenbeispiele zum Prinzip der natürlichen Auslese: Wasserschlauchgewächse (Neukamm), Aronstab (Schneckenburger), Flagellen bei Bakterien (Sikorski).

Obwohl alle diese Beiträge äußerst lesenswert sind, möchte ich besonders auf den Aufsatz von Hemminger und Beyer hinweisen. Wie der Name schon sagt, verbindet die evolutionäre Entwicklungsbiologie Phylogenie und Ontogenie (englisch evolution und development, daher der Ausdruck evo-devo). Insbesondere ist es der modernen Genetik zu verdanken, dass wir heute mehr über die Veränderungen im Genom wissen und damit auch über die Rolle solcher Veränderungen für das Lebewesen und für die Evolution. Hier liegt ein "Schlüssel zum kausalen Verständnis der Evolution" (S. 134), von dem noch viel Aufklärung zu erwarten ist.

Teil 3 richtet sich gegen evolutionskritische Thesen und Argumente, insbesondere gegen das Buch Evolution: ein kritisches Lehrbuch von Reinhard Junker und Siegfried Scherer, das - ursprünglich mit anderem Titel - seit 1986 auf dem Markt ist und viel verkauft wurde. Der Kritiker ist hier pikanterweise der Biologiehistoriker Thomas Junker, der sich regelmäßig gegen den Verdacht wehren muss, Mitautor des von ihm kritisierten Buches zu sein.

Die "Schlussbetrachtungen" in Teil 4 beleuchten das Verhältnis von Evolutionstheorie und Schöpfungsgeschichte aus theologischer Sicht und noch einmal das Begriffspaar "Mikro- und Makroevolution", hier besonders anhand neuerer Befunde über Blinddarmklappen bei Eidechsen, die über 30 Jahre bzw. 36 Generationen beobachtet werden konnten und - bei aller Kontinuität - durchaus Makroevolution zeigen. Und hat man einmal die Hürde zur echten Organveränderung genommen, dann ist - bei genügend Zeit - auch der Schritt vom Kriechtier zum Vogel oder zum Säugetier kein grundsätzliches Problem kehr.

Warum macht jemand sich solche Mühe, um den Kreationismus zu bekämpfen? In einer ausgezeichneten Besprechung von 12 anderen Evolutionsbüchern durch Winfried Henke, Anthropologe an der Universität Mainz, fand ich die Bemerkung:

Ist dieses ständige Wehren notwendig? Es sprechen doch alle Belege für die organismische Evolution! Bereits Thomas H. Huxley betonte 1863 in Evidences as to Man's Place in Nature: "Die Wissenschaft hat ihre Pflicht erfüllt, wenn sie die Wahrheit ermittelt und ausgesprochen hat!" [W. Henke: 200 Jahre Charles Darwin. fachbuchjournal 1 (2/2009) 23-35, S. 34].

So naiv durfte man im 19. Jahrhundert vielleicht noch sein, aber heute? Gibt es nicht genügend Beispiele für den katastrophalen Einfluss des Kreationismus, auch heute noch und wieder stärker und auch bei uns? Gibt es nicht in Kentucky ein Naturkundemuseum Answers in Genesis? Plant nicht die Schweizer Firma Genesis-Land für 100 Millionen Euro einen kreationistischen Freizeitpark bei Berlin? Und sprechen die Umfragen in der Bevölkerung nicht Bände darüber, wie sehr wir der Aufklärung immer noch bedürfen?

Zu einer solchen Aufklärung machen die Autoren ein großzügiges Angebot; es könnte seine Leser und Leserinnen gegen evolutionsfeindliche Argumente wappnen. Allerdings bleiben auch hier zwei besorgte Fragen: Wer liest 400 Seiten, um ein Gespräch führen zu können, von dem er hofft, es werde nie stattfinden? Und wie findet man die Stellen, die man gerade braucht? Deshalb mein Rat: Lesen Sie dieses ausgezeichnete Buch! Und zwar so aufmerksam, dass Sie sich bei Bedarf darin schon auskennen!

 

Prof. Dr. Gerhard Vollmer, Neuburg

     

   

                       

           


© Prof. Dr. Gerhard Vollmer (nur Text)