Hintergrund
Kreationistische Rückzugsgefechte
Reinhard Junker/Siegfried Scherer (Hg.) Evolution - ein kritisches Lehrbuch
Die von Fans wie interessierten Kritikern lang erwartete 7. Auflage des von Reinhard Junker und Siegfried Scherer herausgegebenen Buches "Evolution – ein kritisches Lehrbuch" ist auf dem Markt. Seit 1986 bringen die Autoren Kritik gegen die so genannte Makroevolution vor und bieten ein Schöpfungsmodell als Alternative an. Wer hier Kreationismus oder Intelligent Design (ID) vermutet, liegt nicht ganz falsch. Entsprechend turbulent ist die Wirkungsgeschichte des Lehrbuchs. 2002 erhält es den Deutschen Schulbuchpreis, und 2006 sorgt es – angestoßen durch eine ARTE-Sendung – für lang anhaltende kontroverse Debatten in Presse und Bildungspolitik über die Frage "Schöpfungslehre im Biologieunterricht?". Der bildungspolitische Streit zeigt, dass man keine rein akademische Wolkenschieberei betreibt, wenn man bei der fast 30-jährigen Entwicklungsgeschichte des Buches nach der Tragfähigkeit seiner kreationistischen bzw. ID-Argumentation fragt. Nach dem Vergleich der mir vorliegenden 2., 5., 6. und 7. Auflage ergibt sich folgendes Bild: Die Intelligent Design Argumentation ist differenzierter geworden, dennoch gibt es deutliche Rückzugsgefechte. Details mögen dies plausibel machen.
Kurzzeitkreationismus
Ein Beispiel ist der Kurzzeitkreationismus. In der 2. Aufl. liest man: "Geologische Befunde werden im Rahmen sehr kurzer Zeiträume interpretiert: Katastrophismus" (S. 252). Spätestens ab der 5. Aufl. gestehen die Autoren ausdrücklich zu: "Im Rahmen der ‚Kurzzeit-Schöpfungslehre‘ gibt es Versuche, i.S.d. früheren Katastrophismus die gesamte Erdgeschichte in einen kurzen … Zeitraum einzuordnen. … Dieser hauptsächlich theologisch motivierte Ansatz stößt bislang auf eine Reihe ungelöster Probleme" (5. Aufl. 207, 6. Aufl. 223). Den schwarzen Peter zu deren Lösung gibt man dann allerdings weiter: "Die damit verbundenen geologischen und geophysikalischen Probleme können im Rahmen eines Biologielehrbuchs jedoch nicht angemessen besprochen werden. Ihre Behandlung muss einem kritischen Lehrbuch zur Erdgeschichte vorbehalten bleiben" (ebd.). Seit diesem Hinweis im Jahre 2001 ist ein solches Lehrbuch jedoch meines Wissens nicht erschienen.
Ein zweites Beispiel ist die Bestreitung der so genannten Makroevolution. Dazu heißt es in der 5. Aufl.: "Das Hauptproblem liegt in der Tatsache, daß Makroevolution ein Konstruktionsproblem ist …, während mikroevolutive Vorgänge teilweise gut verstandene Optimierungsprobleme sind, die über kleinste Selektionsschritte laufen können." (134) Dieser Passus wird in der 6. Aufl. wörtlich wiederholt. Neu hinzu kommt aber die endscheidende Ergänzung: "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass künftig neuartige Makroevolutionsmechanismen entdeckt werden, welche die hier geschilderten Probleme lösen. Daher widerlegen die hier vorgestellten Abschätzungen Makroevolution nicht." (163) Das ist m. W. in dieser Deutlichkeit zuvor nirgends gesagt worden.
Paradebeispiel: Bakterien-Geißel
Diese Aussagen zur Makroevolution stehen im Kontext eines evolutionskritischen Standardbeispiels, der Entstehung einer bakteriellen Flagelle; ein Beispiel, das zwar irreduzibel komplex sein soll, aber vergleichsweise gut in der Entstehungswahrscheinlichkeit quantifizierbar ist. Die (zur Disposition stehende) Annahme, dass zu ihrer Entstehung eine Lücke durch 160 gleichzeitig auftretende Mutationen übersprungen werden muss, führt die Autoren in der 6. Aufl. zu dem Schluss, dass ein solcher Prozess "mit derart niedriger Wahrscheinlichkeit abläuft, dass dieses Ereignis selbst in erdgeschichtlichen Zeiträumen nicht zu erwarten ist" (162). Zu diesem Zeitpunkt existiert jedoch bereits ein Modell von N. Matzke, welches das durch diese gewaltige Lücke entstandene Erklärungsdefizit durch Zwischenstationen (sog. selektionspositive Zwischenstufen) relativiert, die durch kleine Sprünge erreichbar wären.
"Das ist logisch nicht korrekt, höchstens psychologisch nachvollziehbar. Das Schließen der Lücke bedeutet nämlich nur, dass ein Indikator wegfällt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das Design-Argument wäre in diesem Fall hinfällig – ohne Wenn und Aber. Aber mit dem Argument fällt nicht zugleich Gottes Handeln, sondern nur ein Hinweis darauf, dass seine Plausibilität als Schöpfer durch naturwissenschaftliche Forschung erhöht werden kann." (Junker 2011, S. 3)
"Das IC-Argument [Argument der Irreduziblen Komplexität] könnte durch den Nachweis einer evolutiven Entstehung einer IC-Struktur widerlegt werden. Es würde genügen, diesen Nachweis in nur einem einzigen Fall zu führen, um die Plausibilität des IC-Arguments für vergleichbar komplexe Beispiele entscheidend zu schwächen." (Junker 2008, 14).
"Manche Leser haben angemerkt, dass dieses Buch im Laufe der Zeit einen deutlich erkennbaren Wandlungsprozess durchlaufen hat. Dieser Wandel wird auch beim Vergleich zwischen 6. und 7. Auflage deutlich. Die Veränderungen dieses Buches geben einerseits und wesentlich den Fortschritt der Wissenschaft wieder. Andererseits sind sie ein Spiegel der Autoren, die zwangsläufig vor dem Hintergrund ihrer persönlichen unterschiedlichen Lebensgeschichten schreiben." (6)
Rückzugsgefechte im Überblick