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Philosophische
Analyse
Das Argument der Feinabstimmung der Naturkonstanten
Besprechung
des Buches "Welt ohne Gott" - Teil 3
In
seinem Buch Welt ohne
Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus setzt
sich der Diplomchemiker und evangelikale Christ Markus WIDENMEYER mit
der "Ordnung" in der Natur auseinander und
entwickelt daraus Argumente gegen den (ontologischen) Naturalismus der
Naturwissenschaften. Er vertritt sogar den Anspruch, den Naturalismus widerlegt
zu haben (z.B. S. 10) und betrachtet den Schluss auf einen
göttlichen Ursprung der Welt als Schluss auf die beste
Erklärung. Im vorliegenden 3. Teil unserer Buchbesprechung
widmen wir uns dem Argument der so genannten Feinabstimmung der
Naturkonstanten, die notwendig zu sein scheint, um die Entstehung von
Leben im Kosmos zu ermöglichen.
Das Argument
der "zweckmäßig" eingerichteten kosmischen
Ordnung
WIDENMEYER (2014) setzt voraus, dass nur bestimmte, a priori sehr
unwahrscheinliche kosmische Randbedingungen (die sich wiederum durch
bestimmte Naturkonstanten und Naturgesetze ausdrücken lassen)
Leben ermöglichen. Folglich brauche es einen
Schöpfer, der diese hoch geordneten,
zweckmäßigen Bedingungen (oder, wie viele sagen, die
Feinabstimmung
der Naturkonstanten) sowie das "komplexe
Gerüst an physikalischen Naturgesetzen"
hervorgebracht habe. In WIDENMEYERs Buch fällt der Begriff Feinabstimmung
(engl. fine-tuning)
nicht explizit, aber das Argument
lässt sich dort erschließen, wo auf die spezifisch
"eingerichtete" Ordnung des Universums, die Leben
überhaupt erst ermögliche, Bezug genommen wird:
"Wir
finden ein Universum vor, das in einem unvorstellbaren Grad geordnet
und dabei ganz genau so eingerichtet ist, dass es eine hochkomplexe
Chemie bis hin zu biologischem Leben geben kann. Seine Ordnung gehorcht
mathematischen Prinzipien, die der menschliche Geist
unabhängig von Beobachtungen des Universums erfassen kann. Im
Rahmen des Naturalismus wäre diese Ordnung ein radikal
unerklärlicher Zufall mit einer unvorstellbar geringen
Wahrscheinlichkeit. Hier wäre ein völlig ungeordnetes
und chaotisches Universum zu erwarten – oder eigentlich viel
eher gar nichts." (ebd., 195)
"Die einzige funktionierende Erklärung für
die unvorstellbare Ordnung einer Welt, die ganz exakt so eingerichtet
ist, dass es eine hochkomplexe Chemie, mathematisch formulierbare
Strukturen und schließlich Lebewesen geben kann, ist analog
dazu [zu menschlicher Kreativität; M.N.] die kreative
Konzeption und Erschaffung durch (mindestens) ein
äußerst intelligentes Wesen, das auch die Macht
besitzt, derartige Pläne zu realisieren. Nur so sind die
gigantische Ordnung der physikalischen Welt und ihre mathematische,
rationale Verstehbarkeit erklärbar. Eine andere rationale
Erklärung gibt es nicht." (ebd., 198).
Einwand 1:
Die Begrifflichkeiten setzen das zu Beweisende voraus
Zunächst einmal ist es hochproblematisch, von einer eingerichteten
Ordnung der Welt zu sprechen, weil damit ein
teleologischer Begriff auf die Natur übertragen wird, der
schon voraussetzt, was belegt werden soll. Auch der Begriff Feinabstimmung
ist kein physikalischer, sondern ein technologischer
Ausdruck, der das zu Beweisende voraussetzt. Sofern der Ausdruck metaphorisch
benutzt wird, ist die Redeweise unbedenklich, doch
WIDENMEYER entwickelt daraus ein ontologisches
Argument. Er erkennt
aber nicht den fatalen Begründungszirkel: Eine "Welt, die ganz
exakt so eingerichtet
ist…", wurde logischerweise eingerichtet (quod
erat demonstrandum), aber dass die Welt
eingerichtet wurde, das gilt es
gerade zu belegen.
Man kann es auch anders formulieren: Alles, was wir wissen, ist, dass
wir existieren, weil
die Naturgesetze Leben ermöglichen (s.
Einwand 4). Die
Folgerung, dass die Welt so eingerichtet ist, damit
Leben existieren kann, kann dagegen nur als empirisch
unbegründete These vorausgesetzt werden
(MITTELSTAEDT 2001,
143).
Einwand 2:
Fine-tuning stützt nicht den Supranaturalismus
Des Weiteren spricht gegen WIDENMEYERs Argumentation, dass die Annahme
eines Schöpfers, der so mächtig ist, dass er das
Universum erschaffen konnte, gar kein Fine-tuning
erwarten
lässt – und dieses somit logischerweise auch nicht
erklären kann
(SOBER 2003). Hätte ein solcher
Schöpfer Leben hervorbringen wollen, hätte er dies
nämlich auch tun können, ohne die
Naturkonstanten
darauf einzustellen: Selbst wenn keine
der als feinabgestimmt angenommenen
Naturkonstanten die richtigen Werte besäßen,
wäre es für ihn möglich, in einem solchen
weitestgehend unwirtlichen Kosmos an einigen Stellen die
"richtigen" Bedingungen zu erschaffen – d.h.
ein "Wunder" geschehen zu lassen, für das
es keine Feinabstimmung braucht. Im Umkehrschluss ist die
Feinabstimmung somit eher ein Indiz dafür,
"…
dass in unserem Universum alles mit rechten Dingen zugeht, dass es also
keine übernatürlichen Eingriffe gibt, die auf ein
intelligentes, übermächtiges Wesen verweisen" (GEIGER
2007, 4).
Zum Beispiel haben die berühmten Resonanzen zwischen den
Atomkernen Helium-4, Beryllium-8 und Kohlenstoff-12 nur in einem evolvierenden
Kosmos Sinn, da unter anderen Voraussetzungen Leben auf
Kohlenstoffbasis nicht hätte natürlich
entstehen
können (Abb. 1). Nimmt man dagegen an, Gott habe das Leben
durch "sein Wort" erschaffen, braucht es keine
Kernresonanzen. Ihr Fehlen
wäre geradezu ein Symptom des
Scheiterns des Naturalismus! Die Existenz von Leben auf
Kohlenstoffbasis könnte in einem solchen Kosmos nur als Wunder
bezeichnet werden. Daher stützt Fine-tuning nicht
den
Supranaturalismus (IKEDA & JEFFERYS 2006).

Abb. 1 Bevor
sich im Kosmos Leben bilden konnte, war die Entstehung von Kohlenstoff
im Innern von Sternen notwendig. Dazu müssen zwei Helium-Kerne
(4He) miteinander zu einem Beryllium-Kern (8Be)
verschmelzen und in
einem weiteren Schritt ein Beryllium-Kern mit einem Heliumkern zum
Kohlenstoff (12C) fusionieren. Das Problem
dabei: 8Be ist so instabil,
dass es augenblicklich wieder zerfällt und nicht zur Bildung
von Kohlenstoff zur Verfügung stehen kann. Das Szenario, dass
drei Helium-Kerne gleichzeitig zusammenstoßen, ist wiederum
so unwahrscheinlich, dass sich Kohlenstoff nur extrem langsam bildet.
Dieses Problem der Beryllium-Barriere
wird durch die so genannte
Trippel-Resonanz abgemildert: Die Energie zweier 4He-Kerne
entspricht
fast genau dem Grundzustand von 8Be,
und die Energie der beiden Kerne 8Be
und 4He entspricht einem
Anregungszustand des 12C. Dadurch
erhöht sich die Entstehungswahrscheinlichkeit des Kohlenstoffs
deutlich. Die Tatsache, dass die Bildung von Kohlenstoff von der
Übereinstimmung der Energieniveaus abhängt, wird oft
als Beispiel für Feinabstimmung angeführt. Diese hat
aber nur in einem evoluierenden
Kosmos Sinn; in einer Welt, in der ein Gott
Leben erschuf, wäre sie so sinnlos wie
unerklärlich.
Das
Fine-tuning-Argument ist bestenfalls ein Argument für den
so genannten Deismus von Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, der behauptet, dass
ein Planer den Kosmos so eingerichtet habe, dass sich die Strukturen in
ihm von selbst
entwickeln (evolvieren). Der Deismus hat mit
dem von
WIDENMEYER propagierten Supranaturalismus aber nichts zu tun, denn
ersterer akzeptiert den weltimmanenten
Naturalismus. Die
Begründung für einen in der Welt agierenden Gott,
gar
für eine monotheistisch-abrahamitische Religion, liefert das
Fine-tuning-Argument gerade nicht.
Einwand 3:
Der überwiegend lebensfeindliche Kosmos spricht gegen eine
Feinabstimmung lokaler astronomischer Parameter
Die These, dass die physikalischen Parameter "abgestimmt" sind, um
Leben zu
ermöglichen, ist auch deshalb nicht plausibel, weil der
weitaus größte Teil des Universums keinerlei Leben
beherbergen kann. Hier gilt es zwischen zwei Arten der Feinabstimmung
zu unterscheiden: Die globalen
kosmologischen Randbedingungen, etwa die
Stärke der vier Grundkräfte (s. Einwand 6), sowie lokale
astronomische Parameter, die es für den Lebenserhalt
braucht: ein günstiger Abstand des Planeten zur Sonne, einen
Mond, der die Planetenbahn stabilisiert, die Schiefe der Erdachse auf
der Ekliptik usw. Betrachtet man solche lokalen
Parameterwerte, wird
der Fehlschluss auf eine Feinabstimmung offensichtlich: Wer annimmt,
ein Demiurg habe die Verhältnisse auf unserem Planeten
aufeinander abgestimmt, ist nicht in der Lage, die gigantische kosmische
Maschinerie zu erklären, welche die Erde so
unbedeutend macht, wie ein Sandkorn in der Wüste.
Weshalb, so fragt SCHMIDT-SALOMON (2005, 5), existiert ein Universum,
welches
"…in
weiten Teilen keinerlei Leben ermöglicht, wenn es doch
eigentlich nur um das Seelenheil jener affenartigen, auf zwei Beinen
laufenden Säugetiere geht, die einen winzig kleinen Planeten
am Rande der Milchstraße bewohnen? Hätte es
für die ihm unterstellten Zwecke nicht völlig
genügt, eine kleine Scheibe mit darüber
gewölbtem Firmament zu erschaffen – etwa so wie sich
die Verfasser des biblischen Schöpfungsmythos die Welt
vorstellten?"
Einen
lebensspendenden Planeten im Ensemble mit geschätzt 1022
weiteren kosmischen Objekten kann man wahrlich nicht als Beleg
für eine Planung anführen. Es ist offensichtlich,
dass die Bedingungen auf der Erde nicht mehr sind als ein
Glückstreffer in der kosmischen Lotterie, der eine wahrhaft
astronomische Anzahl von "Nieten"
gegenüber steht. Dieser Befund passt bestens zur
naturalistischen Sichtweise. Wie
so oft, so stellt das
Planmäßigkeitsargument auch hier selektiv den
vermeintlichen "Sinn" in der Welt heraus
– und übersieht den "Unsinn".
Der
Philosophieprofessor Robert Todd CARROLL (2013) stellt fest:
"The sun will be
unable to support life on this planet some day. It is already unable to
support life on several other planets. What does this fact prove about
design? Nothing. The axis of the earth has been different and will be
different again. Someday this planet will be uninhabitable. What does
that prove about design, intelligent or otherwise? Nothing. We can't
deny that if millions of factors did not occur, we wouldn't be here. So
what? Many of these factors did not exist in the past and will not
exist in the future on this planet. There was a time when there was no
life on this planet and there will be a time when no life exists here
in the future. There was a time when this planet did not exist and
there will be a time in the future when it will not exist. What does
that prove about design? Nothing. There are countless planets that
exist which do not have the conditions necessary for life. What do they
prove about design? Nothing."
Einwand 4:
Das "anthropische Prinzip" ist trivial
Es kann nicht überraschen, dass wir uns in einem Kosmos
wiederfinden, der Eigenschaften hat, die Leben ermöglichen;
man spricht auch von der Trivialität des anthropischen
Prinzips: Wenn es sie nicht gäbe, wären
wir nicht
hier, so dass es auch keinen Grund gibt, sich darüber zu
wundern. Dazu der Wissenschaftstheoretiker Bernulf KANITSCHEIDER (2015,
194f):
"Wie
geht man nun mit den kontingenten, für uns günstigen
astronomischen Randbedingungen der Erde um, die uns das Leben auf
diesem Gesteinsplaneten ermöglichen? In diesem Fall wird
vermutlich niemand auf den Zufall rekurrieren, sondern auf den
versteckten Selektionseffekt, der darin besteht, dass wir als Bewohner
dieser Erde auf anderen Planeten mit gänzlich verschiedenen
Atmosphären nicht existieren könnten. Nun wissen wir
aber, dass es eine Vielzahl von Fixsternen mit eigenen Planetenringen
gibt und dass die Zahl der entdeckten Exoplaneten täglich
wächst. Deshalb ist es naheliegend, den scheinbaren Zufall,
dass wir auf einem lebensfreundlichen Planeten leben, dem
Selektionseffekt zuzuschreiben, dass wir nur auf einem solchen Planeten
diese Beobachtungen machen. Während der Großteil von
Trabanten der Fixsterne ohne Leben auskommen muss, gibt es eine kleine
epistemische Untermenge von Wandelsternen, die gerade die richtigen
Oberflächenkonfigurationen und chemischen Baustoffe
für Leben besitzen, so dass sich erkenntnisfähige
Organismen bilden können.
Diese Gedankenkette kann man auch auf das Universum
übertragen, nur mit dem Unterschied, dass anders als die
Exoplaneten die anderen Welten [Parallelwelten; M.N.] nicht direkt
beobachtet, sondern nur indirekt etwa über die Auswertung des
Inflationären Szenariums bestimmt werden
können."
Jener Selektionseffekt, der die passenden lokalen
Randbedingungen auf
unserer Erde erklären kann, vermag also auch die passenden globalen
zu erklären. Zudem ist der Schluss von multiplen
Planetensystemen und Galaxien auf die Existenz multipler Universen,
deren Gesamtheit man als Multiversum
bezeichnet, naheliegender, als
WIDENMEYER und seine Gesinnungsgenossen behaupten.
Was hat es mit der Multiversums-Theorie auf sich, und wodurch wird sie
gestützt?
Exkurs:
Selbstreproduzierende inflationäre Universen
Die Theorie selbstreproduzierender inflationärer Universen
stammt von dem Kosmologen Andrei LINDE. Sie ist ein vielversprechender
Kandidat zur Erklärung der kosmologischen Randbedingungen. Sie
sagt aus, dass unser Kosmos keine einzelne, expandierende
Seins-Sphäre
ist, sondern ein "selbstgenerierendes
Fraktal, aus dem unablässig andere inflationäre
Universen sprießen" (LINDE 1995). Inflationär
bedeutet, dass sich diese Universen in den ersten
Sekundenbruchteilen weitaus rascher (nämlich exponentiell)
ausdehnen als danach. So stob unser Universum innerhalb von 10-32
Sekunden um den gewaltigen Faktor von 1050
auseinander und wuchs der Größe subatomarer Partikel
auf das
Volumen einer Grapefruit an. Nach Ende der inflationären
Epoche sollte es den energetischen Grundzustand erreicht haben.
Entgegen der populären Auffassung beruht die
Multiversums-Theorie nicht auf wilden Ad-hoc-Annahmen, sondern steht
auf einem vergleichsweise soliden Fundament. Da ihre Aussagen logisch
mit dem inflationären Szenario verknüpft sind, ist
sie indirekt
prüfbar: Wenn sich bestätigt, dass das
Universum eine Epoche exponentieller Ausdehnung erfuhr, wird dadurch
auch die Multiversums-Theorie gestützt. Tatsächlich
konnten jüngste Auswertungen der Daten des PLANCK-Satelliten
über die Beschaffenheit der kosmischen Hintergrundstrahlung
das Inflationsmodell eindeutiger bestätigen als zuvor (COWEN
& CASTELVECCHI 2014).
Zudem ist das inflationäre Szenario unter bestimmten
Voraussetzungen aus der Quantenmechanik und Allgemeinen
Relativitätstheorie ableitbar. So kann man sich das Vakuum mit
bestimmten Quantenfeldern angefüllt vorstellen, etwa mit dem
sog. HIGGS-Feld, mit dem ein gleichnamiges Teilchen, das HIGGS-Boson
(Abb. 4), verbunden ist. Die Energiedichte des Feldes kann
lokal durch Schwankungen (so genannte Quanten-Fluktuationen) immer
wieder auf hohe Werte ansteigen. Wird dadurch ein bestimmter Wert
überschritten, entsteht ein Zustand, den man als falsches
Vakuum bezeichnet, um anzudeuten, dass er nicht von Dauer
ist.
Berechnungen zeigen, dass ein skalares Feld mit sehr flacher
Potenzialkurve (ein so genanntes Inflaton-Feld)
im Zustand des falschen
Vakuums einen negativen
Druck hat. Nach der Allgemeinen
Relativitätstheorie führt dies zu einer
abstoßenden Kraft und zu einer exponentiellen Ausdehnung des
betreffenden Raumbereichs – zu einem Urknall.
Anfangs erfüllte das Inflaton-Feld nur ein unvorstellbar kleines Quantenvolumen, eine Art Spin-Netzwerk oder Raumquant,
welches sich nun allerdings rasend schnell bis in kosmische Dimensionen
ausdehnt. Bemerkenswerterweise bleibt die Energiedichte des falschen
Vakuums dabei konstant; sie "verdünnt" sich durch die Expansion
also nicht. Die Gesamtenergie
des Volumens steigt sogar exponentiell an und sorgt dafür, dass
das HIGGS-Feld im Zustand des falschen Vakuums verharrt.
Durch quantenphysikalische Prozesse kommt es aber immer wieder dazu,
dass Teilbereiche
dieses falschen Vakuums "zerfallen", also die Energieschwelle zum echten
Vakuum durchtunneln.
Dabei entsteht eine Vakuum-Blase, die rasch keine
Verbindung mehr zum sich weiterhin exponentiell ausdehnenden "falschen"
Vakuum hat. In einer solchen Blase wird
die gewaltige Energie des falschen Vakuums freigesetzt und
erfüllt das Universum nahezu homogen mit Strahlung und
heißen Teilchen. Der Quantentheorie zufolge ist dies ein
unaufhörlicher Prozess; jede Blase (Abb. 2)
repräsentiert ein Universum mit individuell verschiedenen
Randbedingungen, die vollständig aus dem Zerfall des falschen
Vakuums folgen. Wie in einer kosmischen "Lotterie"
sollten so auch immer wieder Universen entstehen, in denen Leben
möglich ist.

Abb. 2 Grafische
Veranschaulichung der Multiversums-Theorie. Entgegen ihrer Kritiker ist
diese Theorie keine wilde Spekulation, sondern theoretisch
begründet und empirisch testbar. © fotolia /
Jürgen FÄLCHLE.
WIDENMEYER erhebt gegen diese Theorie den Einwand, dass das Multiversum
selbst einer Grundordnung aufsäße, die "unendlich
unwahrscheinlich"
sei:
"Selbst
wenn in den verschiedenen Untersystemen des Multiversums
unterschiedliche Naturgesetze und Anfangsbedingungen herrschen sollten,
müssten sie doch bestimmte Ordnungsmerkmale gemeinsam haben:
Sie müssten zumindest in irgendeiner Form eine konkrete,
physikalische Realität darstellen und sie müssten den
übergeordneten Naturgesetzen des Multiversums folgen. Nun
haben wir bereits gesehen, dass eine Vergrößerung
realer, geordneter Systeme eine ungefähr exponentielle Zunahme
ihrer Ordnung mit sich bringt. Damit sind wir am entscheidenden Punkt:
Ein Multiversum, bei dem der Umfang des physikalischen Systems um das
fast Unendliche vergrößert wäre,
müsste folglich eine so gut wie unendliche Ordnung besitzen.
Es wäre [gemäß dem 2. Hauptsatz der
Thermodynamik; M.N.] praktisch unendlich unwahrscheinlich." (ebd., 141)
Den Einwand, dass das Multiversum selbst eine geordnete Struktur
besäße, kann man zwar gelten lassen. Eine solche
Grundstruktur wäre durch die große vereinheitlichte
Theorie (GUT) beschrieben, die per Definition
für das gesamte
Multiversum gälte. Die Wahrscheinlichkeitsaussage
ist jedoch
unhaltbar: Wenn es ein Inflaton-Feld gibt, dann ist die Tunnelung
(Universen-Bildung) ein in der Summe energetisch und entropisch
wahrscheinlicher Vorgang; man muss dabei bedenken, dass sich das Feld
nicht im Grundzustand
befindet. Darüber hinaus ist es denkbar,
dass eine Aufspaltung in Universen so stattfindet, dass viele von ihnen
eine andere Zeitrichtung haben. Auch wenn dies Spekulation ist, kann
man sagen, dass der 2. Hauptsatz der Thermodynamik nicht einfach auf
das Multiversum extrapoliert werden darf. Es ist fraglich, ob das
Entropiekonzept in Urknallnähe überhaupt anwendbar
ist und worauf genau sich dort ein 2. Hauptsatz der Thermodynamik
beziehen würde.
Aber woher stammt die gewaltige Energie, die sich in Form von Teilchen
und Strahlung in immer neuen Universen materialisiert; wird hier etwa
unaufhörlich Materie "aus dem Nichts"
geschaffen und gegen den Energieerhaltungssatz verstoßen? Die
Antwort lautet: nein. Die Gesamtenergie
des falschen Vakuums nimmt zwar
mit fortschreitender Ausdehnung immer weiter zu, aber dies ist nur der positive
Anteil, den wir in der Materie sehen. "Bezahlt" wird diese Energie
durch die
abstoßende Kraft des falschen Vakuums, die Materie und Raum
gewaltig auseinander treibt. Der Anteil der im Gravitationspotenzial
der auseinander stiebenden Materie gespeicherten Energie ist also negativ
und gleicht den Anteil der positiven
Energie aus.
Würden alle Teilchen des Universums an den Ausgangsort ihrer
Expansion zurück stürzen, bliebe nichts bestehen bis
auf jene Quantenfluktuationen, die das falsche Vakuum hervorgerufen
haben. In der Summe
besitzen also die Universen Null
Energie; ein Indiz
dafür, dass das Universum keinen Verursacher brauchte
(KRAUSS
2013).
Abb. 3 Die
Tatsache, dass das Universum in der Summe eine Energie von
Null hat, kann man sich mithilfe eines Arbeiters veranschaulichen, der
einen Erdhügel aushebt. Der Aushub repräsentiert die
positive Energie des Universums, das zurückgebliebene Loch
die negative Energie der Gravitationsfelder. Beide Energieanteile
summieren sich zu Null.
Leider ist die Behauptung, die Multiversums-Theorie würde eine
Vervielfältigung der physikalischen Realität
behaupten, häufiger zu lesen. Hier wird vorausgesetzt, dass
die komplette "physikalische Realität"
etwas Kleines, für uns Greifbares sei. Unsere
Alltagsintuition, dass sich die Dinge nicht einfach vervielfachen,
verleitet fälschlicherweise zu der Annahme, die
Multiversums-Theorie sei ontologisch
"gefräßig".
Einwand 5:
Die Annahme eines "Planers" ist völlig erfahrungsresistent
Die Gleichsetzung des HIGGS-Feldes mit dem Inflaton-Feld ist derzeit
zwar noch spekulativ, aber das inflationäre Szenario ist
empirisch gut bestätigt. Es ist somit ein Modell der Erfahrungswissenschaften.
Warum also sollte man es zugunsten der
erfahrungsresistenten
Behauptung, ein Planer habe das Universum passend
eingerichtet, aufgeben? Nichts Empirisches spricht für die
Planbarkeit von Naturgesetzen, im Gegenteil: Kein noch so intelligenter
Planer vermag das gesetzmäßige Verhalten der Dinge
zu ändern, sich beispielsweise mit
Überlichtgeschwindigkeit fortzubewegen. Der Schluss auf eine Gottheit,
die dies prinzipiell könnte, ist also kein
empirischer Analogieschluss mehr, sondern setzt theologische
Glaubensannahmen voraus. WIDENMEYERs
These ist grundsätzlich
nicht überprüfbar, weil aus einem göttlichen
"Design", über dessen Mechanismen und
Handlungsgrenzen sich nichts Objektives in Erfahrung bringen
lässt, logischerweise kein Befund gefolgert werden kann, der
für oder gegen die Designer-These spräche. An
dieser
logischen Tatsache scheitern alle Plausibilitätsargumente, die
für die Existenz und das Wirken
übernatürlicher Wesenheiten beansprucht werden (siehe
Einwand 2).
Dies hat zur Konsequenz, dass man mit einem omnipotenten Designer zwar
grundsätzlich jeden nur erdenklichen Befund (und sein
Gegenteil) "erklären" kann: Die Herkunft
von Universen, Galaxien, Sternen und Planeten, von Leben, Geist,
Bewusstsein usw. Alles
nur Erdenkliche lässt sich einem
göttlichen Schöpfer zuschieben. Doch eine Ursache,
die problemlos alles
erklären kann, erklärt in
Wirklichkeit gar nichts (MAHNER 2003). Verweist man auf etwas
Übernatürliches, wird die Erklärung nur
eine Ebene nach hinten verlagert, das Unerklärte durch den
unerklärten Ratschluss einer unbekannten Wesenheit ersetzt,
womit nichts gewonnen ist.
Während also die Naturwissenschaften mit einer Reihe
unterschiedlicher Mechanismen operieren müssen, um damit
jeweils nur einen Teilbereich der Wirklichkeit differenziert zu
erklären (für die Entstehung von Sternen etwa braucht
es ganz andere Mechanismen als für die Entstehung von Leben),
kommt "Design" mit einer bequemen Allzweckantwort
aus. Das wäre so, als würden Naturwissenschaftler auf
eine
nicht näher spezifizierte "Evolutionskraft" verweisen, um
damit die Herkunft
von allem
im Kosmos zu erklären – ein methodologisch
wertloses Unterfangen.
Einwand 6:
Ein Fine-tuning der globalen Parameter ist nicht erwiesen
Tatsächlich wissen
wir noch gar nicht sicher, ob es eine
Feinabstimmung der Naturkonstanten gibt (VIDAL 2014, 139). Dieses
Wissen würde nämlich die Kenntnis voraussetzen, dass
nahezu alle (oder zumindest die allermeisten) Veränderungen
der Naturkonstanten zu lebensfeindlichen Universen führen.
Doch nicht einmal für die tatsächlichen
Werte der
Naturkonstanten sind alle Bedingungen bekannt, unter denen die
Entstehung von Leben (in welcher Form auch immer) möglich
wäre. Würde man einige Naturkonstanten
ändern, würden sich möglicherweise auch die
Eigenschaften der chemischen Elemente so verändern, dass ein
anderes Element (etwa Silicium) wesentliche Eigenschaften des
Kohlenstoffs besäße. Es ist auch möglich, dass bei einer Veränderung der
Naturkonstanten andere (nicht-molekulare) Strukturen auftauchen würden, die
als Basis für Leben infrage kämen.
Der US-amerikanische Physiker und Astronom Victor STENGER hat
untersucht, was passieren würde, könnte man mehrere
Naturkonstanten gleichzeitig variieren lassen (STENGER 2000). Dabei
ließ er Variationen um den Faktor 100.000 über und
unter den heutigen Werten zu. Im Ergebnis waren sehr viel
größere Schwankungen der Konstanten
"zulässig", weil diese wiederum von
anderen Größen kompensiert würden. In über
der Hälfte der simulierten Universen
wäre die Existenz langlebiger Sterne (über eine
Milliarde Jahre) möglich – was man nicht unbedingt
als "Feinabstimmung" bezeichnen kann. Vgl. dazu
auch STENGER (2011, 70):
"As
we will see in several specific cases, changing one or more other
parameters can often compensate for the one that is changed. There
usually is a significant region of parameter space around which the
point representing a given universe can be moved and still some form of
life possible."
Selbst wenn man STENGERs starker Behauptung, die eine Feinabstimmung
leugnet, nicht folgen möchte, ist die entgegengesetzte (etwa
von BARNES 2012 vertretene) Behauptung, Fine-tuning sei eine erwiesene
Tatsache, nicht weniger überzogen.
VIDAL (2014, ebd.) stellt fest, dass es sich beim Fine-tuning beim
derzeitigen Stand des Wissens um eine Vermutung handelt,
denn wir haben
überhaupt keine Möglichkeit, sämtliche
Universen, die möglich sind, zu simulieren, um herauszufinden,
wie viele davon Leben ermöglichen:
"Given
parameter sensitivity, fecund universes are likely to be rare, so this
intuition may well be correct, but should certainly not considered as a
proof, given the tiny exploration of space that humanity has made so
far."
Der Kosmologe Stephen WEINBERG (1993, 221) formuliert es noch
dezidierter:
"The
evidence that the laws of nature have been fine-tuned to make life
possible does not seem to me very convincing. For one thing, a group of
physicists has recently shown that the energy of the unstable state of
carbon in question could be increased appreciably without significantly
reducing the amount of carbon produced in stars. Also, if we change the
constants of nature we may find many other unstable states of the
carbon nucleus and other nuclei that might provide alternative pathways
for the synthesis of elements heavier than helium. We do not have any
good way of estimating, how improbable it is that the constants of
nature should take values that are favorable for intelligent
life."
Damit wären wir beim nächsten Einwand
angelangt.
Einwand 7:
Das Wahrscheinlichkeits-Argument ist ungültig
Um den Naturalismus zu "widerlegen", spricht
WIDENMEYER in einer Art und Weise über Wahrscheinlichkeiten,
dass darüber die Voraussetzungen vergessen werden, unter denen
seine Schlüsse berechtigt wären.
Wiederholen wir
dessen Behauptung:
"Im
Rahmen des Naturalismus wäre diese Ordnung ein radikal
unerklärlicher Zufall mit einer unvorstellbar geringen
Wahrscheinlichkeit. Hier wäre ein völlig ungeordnetes
und chaotisches Universum zu erwarten — oder eigentlich viel
eher gar nichts." (ebd., 195)
Im Zusammenhang mit der Entstehung des Universums über Wahrscheinlichkeiten
zu reden, hätte nur Sinn, wenn klar
wäre, auf welches Ensemble von Systemen sie sich beziehen
sollen, durch wie viele freien Parameter sich diese Systeme
beschreiben lassen, innerhalb welcher Werte sie schwanken und welche
Systemzustände konkret zu bewohnbaren Universen
führen würden. Dieses Wissen steht der Kosmologie,
wie gesagt, nicht zur Verfügung. Wenn man nur ein Multiversum
postuliert, wird es zudem schwierig, eine Wahrscheinlichkeit
überhaupt zu definieren. Das
Anwenden des
Wahrscheinlichkeitsbegriffs außerhalb eines klar
explizierbaren Bezugsrahmens, ist physikalisch unsinnig.
Nehmen wir an, eine Theorie T habe zum Ziel, die Naturkonstanten zu
erklären, beispielsweise die Stringtheorie. Nehmen wir ferner
an, T enthalte einen oder mehrere Freiheitsgrade, und würde
man diese innerhalb T wiederholt mittels eines Zufallsgenerators
festlegen, so würden die beobachteten Werte extrem selten
erzeugt werden. Dies ließe verschiedene
Erklärungsansätze zu:
(a) T ist falsch (trivial)
(b) T ist unterdeterminiert. Der
Mechanismus, der die Werte festlegt,...
(b1) ... ist noch nicht
gefunden und eventuell auch nicht Teil von T
(b2) ... ist echter Zufall
(c) Alle Parametrisierungen von T sind
realisiert
Persönlich mag man Lösung (b2) für unbefriedigend
halten – unwahrscheinlich
ist sie deswegen
noch lange nicht; für die übrigen Lösungen
gilt das erst recht.
Einwand 8:
Die großen vereinheitlichten Theorien reduzieren die Zahl der
freien Parameter zur Erklärung der "Feinabstimmung"
Im Licht der modernen Kosmologie zeichnet sich ein weiteres Problem des
Fine-tuning-Arguments ab, welches darin besteht, dass es die derzeit
beobachtete Eigenschaftsvielfalt der Dinge zum Gegenstand hat (die
durch eine komplexe Hierarchie von Naturgesetzen und Konstanten
beschrieben werden kann), dabei aber übersieht, dass man zur
Beschreibung eines hochsymmetrischen Anfangszustands des Kosmos mit
einer weit geringeren Anzahl von Naturgesetzen und Konstanten auskommt.
Während die Standardtheorie der Elementarteilchen mindestens
18 freie Parameter benötigt, reduzieren die so genannten großen
vereinheitlichten Theorien (engl. Grand Unified
Theories, kurz GUT), die häufig Supersymmetrie
beinhalten
(Abb. 4), ihre Anzahl. Im
Idealfall kann man das "komplexe
Gerüst" an Mechanismen und Gesetzesaussagen, mit
denen man heute die Existenz von Atomen, Molekülen usw.
beschreibt, auf eine einzige Symmetriegruppe, das heißt auf einen
fundamentalen Zusammenhang zurückführen.
Betrachten wir beispielsweise die Hierarchie der vier
Grundkräfte (elektromagnetische Kraft, starke und schwache
Kernkraft sowie die Gravitation). Die Kräfte, die in einem
genau ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen, um die
Existenz langlebiger Sterne und stabiler molekularer Strukturen zu
ermöglichen, müssen im Standardmodell der
Elementarteilchen durch zahlreiche Ad-hoc-Parameter und
Kopplungskonstanten beschrieben werden. In Urknallnähe
existierten hingegen nur eine
universale Kraft und eine
Kopplungskonstante; alle Kopplungen bei niedrigeren Energien leiten
sich von der universalen Kopplung ab. Physikalisch lässt sich
mit einem Produkt einiger weniger Symmetriegruppen die volle
Komplexität von drei der vier bekannten Grundkräfte
aufspannen. Damit lässt sich die gesamte Physik und Chemie
erklären, solange die Gravitation nicht überwiegt.
Nach Ansicht führender Teilchenphysiker und Kosmologen
scheinen also vereinheitlichte Theorien mit Supersymmetrie das Problem
der Feinabstimmung der Standardtheorie der Elementarteilchenphysik (SM)
zu lösen; vgl. etwa Wim DE BOER (1994, 223 und 229):
"This
'fine-tuning' problem is solved in the
supersymmetric extension of the SM, as will be discussed
afterwards." (ebd., 195)

Abb. 4 Mit
der Entdeckung des HIGGS-Bosons im weltweit leistungsstärksten
Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) des CERN im Juli
2012 wurde der letzte noch fehlende Baustein im Standardmodell der
Elementarteilchen nachgewiesen. Das Standardmodell hat jedoch eine
Reihe von Erklärungslücken, die durch
vereinheitlichte Theorien mit Supersymmetrie (SUSY) geschlossen werden
können. Diese Theorien sagen für die
Elementarteilchen (links) die Existenz von Partnerteilchens voraus
(rechts). Ihre Existenz konnte bislang nicht nachgewiesen werden, weil
sie nach Meinung der Wissenschaftler zu schwer für die
Teilchenbeschleuniger sind. Daher setzen die Physiker große
Hoffnung in den LHC. Mithilfe seiner Detektoren beginnt noch in diesem
Jahr die Suche nach supersymmetrischen Teilchen. © Grafik: LMU
München, www.etp.physik.uni-muenchen.de/join/joinbachelor2015
Nun schreibt WIDENMEYER (2015, 15) unter der
Zwischenüberschrift "4.4 Fundamentalere
Physik?":
"...
Zunächst enthält auch eine solche fundamentalere
Physik sicherlich etliche Eigenschaften, die alle (unabhängig
voneinander) ganz anders sein könnten, als sie sind. Dies
wären ihre generelle mathematische Struktur und die
verbleibenden freien Parameter. Die Anzahl der Parameter würde
zwar sinken. Der Feinabstimmungsgrad der Parameter bemisst sich aber
nicht nur über die Anzahl der Parameter. Genauso entscheidend
ist auch das jeweilige Verhältnis des für die
Möglichkeit von Chemie und Leben zulässigen
Wertebereichs im Vergleich zum gesamten physikalisch denkbaren
Wertebereich. Die Reduktion einer Theorie mit vielen Parametern in eine
Theorie mit weniger Parametern könnte sich
diesbezüglich darstellen wie eine
Überführung z.B. einer binären Zahl in eine
dezimale: Zum Beispiel ist '111001' im
binären System '39' im dezimalen System.
Die Anzahl der Parameter (sprich: Stellen) hat sich zwar von sechs auf
zwei reduziert. Aber dafür gibt es im Gegenzug sozusagen
fünfmal so viele Variationsmöglichkeiten pro
Parameter (nämlich jetzt zehn statt zwei). Das
heißt: Sind die fein abgestimmten Parameter der heutigen
Physik in einer zukünftigen Theorie durch deutlich weniger
Parameter abgebildet, könnte sich im Gegenzug der jeweils
geeignete Wertebereich (im Verhältnis zum möglichen
Wertebereich) entsprechend verkleinern."
Ich habe einen befreundeten Physiker zu diesen Aussagen befragt. Hier
sein Kommentar:
"Dafür
sehe ich keinen Anhaltspunkt, ich finde es etwas an den Haaren
herbeigezogen. Zum einen können die Parameter dann nicht mehr
unabhängig variiert werden (daher ist die Analogie zum
Zahlensystem falsch). Zudem ist das Kriterium einer GUT ja nicht nur,
weniger formale Annahmen / Konstanten zu haben, sondern gleichzeitig
soll eine größere Klasse von Phänomenen
erklärt werden. Beispielsweise Effekte der Quantengravitation,
die weder durch die Quantenfeldtheorie noch durch die Allgemeine
Relativitätstheorie, noch durch eine unabhängige
Kombination aus beiden erklärt werden können."
Mit einem Wort: Die
Vermutung, dass eine Verringerung der Zahl der
freien Parameter durch eine Zunahme von
Variationsmöglichkeiten kompensiert würde, ist eine
aus dem Ärmel geschüttelte Ad-Hoc-Annahme,
für die gegenwärtig überhaupt nichts
spricht.
Einwand 9:
Das Fine-tuning-Argument ist eine Form des Fehlschlusses, der an das
Nichtwissen appelliert
(Lückenbüßer-Argument)
WIDENMEYERs Naturalismuskritik beruht auf einer Neuauflage des
Fehlschlusses, den man als "Argument, das an das Nichtwissen
appelliert" bezeichnet (lat.: argumentum
ad ignorantiam): Wir
wissen derzeit noch nicht genau, welche Antworten die naturalistische
Wissenschaft auf das Problem der "Feinabstimmung"
geben kann – wir wissen ja noch nicht einmal sicher, ob solch
ein Problem überhaupt existiert. Diese Wissenslücke
wird mit fragwürdigen Annahmen ausgefüllt, die den
Eindruck erwecken sollen, es sei unplausibel, dass der Naturalismus die
Wirklichkeit korrekt beschreibe.
Fehlendes Wissen und fragliche Annahmen sprechen aber weder
für noch gegen den Naturalismus, sondern nur dafür,
dass noch weiterer Forschungsbedarf besteht. Gerade an der Nahtstelle
zwischen Kosmologie und Teilchenphysik, um die in den letzten Jahren
viele hochaktive Forschungsprogramme entstanden sind, ist fast
wöchentlich mit einer Überraschung zu rechnen. Sollte
sich in 50 Jahren herausstellen, dass die Zahl der Universen, in denen
sich Leben entwickeln kann, tatsächlich
infinitesimal klein
ist im Verhältnis zur Zahl möglicher Universen, kann
WIDENMEYER seine Kritik gerne neu auflegen. Aber wer schon im jetzigen
Stadium einen Schöpfer einschiebt, um einem
naturwissenschaftlichen Ergebnis vorzugreifen, begeht ganz klar ein
argumentum ad ignorantiam.
Der Wissenschaftsphilosoph Philip KITCHER (2008, 432)
schreibt:
"Wo
keine Wissenschaft mehr möglich ist, ist es auch keine
Schande, kein Wissenschaftler zu sein. Aber finden wir hier
tatsächlich ein Tor mit der Aufschrift, die uns ermahnt:
'Weitergehen unmöglich!'?"
Diesen irreführenden Eindruck erweckt WIDENMEYER, lange bevor
die moderne Kosmologie den Naturalismus konsequent ausschöpfen
konnte – und darum ist seine supranaturalistische
"Lösung" wissenschaftlich gesehen
– keine
Lösung, sondern der viel beachtete
Fehlschluss des argumentum
ad ignorantiam.
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www.wort-und-wissen.de/artikel/a18/a18.pdf Zugr. a. 20.02.2015.
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Fußnoten
Zur
Erklärung: Auf Quantenebene gibt es keinen Zeitpfeil und somit
auch keine Ursache,
die in einer Zeit davor
hätte auf das
betreffende Quantensystem einwirken können. Quantenereignisse
entstehen, metaphorisch gesprochen, "aus dem
Nichts" – genauer: aus einer fundamental zeitlosen
Welt. Es brauchte daher keinen Gott als "erste
Ursache" für die Bildung eines Quantenuniversums
oder Multiversums.
Diesen Vorwurf muss sich auch Luke BARNES (2012) gefallen lassen, der
sich einer Wahrscheinlichkeitsabschätzung des Physikers Roger
PENROSE bedient: Dieser hatte berechnet, dass im Vergleich zu allen
möglichen Materieanordnungen die rein zufällige,
nahezu völlig homogene Verteilung der Teilchen kurz nach dem
Urknall extrem unwahrscheinlich wäre. Die Wahrscheinlichkeit
dafür hat PENROSE auf nur 1 zu 10 hoch 10 hoch 123
beziffert. Die doppelte Hochzahl ist unvorstellbar riesig. Man
könnte meinen, die Bildung eines weitgehend homogenen und
"flachen" Raums grenze an ein Wunder. Allerdings
scheint BARNES zu übersehen, dass diese Materieanordnung, die
in gravitativen Systemen einem Zustand extrem niedriger Entropie
entspricht, eben nicht zufällig
entstanden ist, sondern aus
der kosmischen Inflation resultiert. Erst mit der späteren
Entfaltung der Gravitationswirkung geht, was lange nicht bekannt war,
eine Zunahme
der Entropie einher (vgl. PENROSE 2005, 707).
Autor:
Martin Neukamm
© AG Evolutionsbiologie des VdBiol.
02.10.2015
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