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Neues aus der Forschung

Richard Lenski und die Evolution

Langzeitexperiment mit Bakterien belegt die Entstehung einer komplexen Neuerung


Lenskis Langzeitexperiment

Ist die Evolution in der Lage, Innovationen hervorzubringen, die mehrere Organisationsschritte erfordern, bevor ein entsprechender Selektionsvorteil gegeben ist? Falls ja, welche Mechanismen leisten dies? Schaffen sie ihr Werk allmählich (über unzählige Generationen hinweg) oder sprunghaft (in einem einzigen Organismus)? Zur Klärung dieser Fragen rief der US-amerikanische Evolutionsbiologe Richard LENSKI ein viel beachtetes Langzeitexperiment mit Bakterien ins Leben, das inzwischen seit über einem viertel Jahrhundert andauert. Tatsächlich hat die Studie bereits manch spektakuläre Erkenntnis geliefert.

Titelbild: Kompositbild des Langzeit-Evolutionsexperiments. Bildquelle: Richard Lenski und Brian Baer, Michigan State University. doi:10.1371/journal.pbio.1002185.g001, CC BY 4.0.

Bakterien als Forschungsobjekte

Bakterien haben gegenüber anderen Organismen den Vorteil, dass man sie in großer Zahl züchten kann. Zudem vermehren sie sich extrem rasch. Das macht sie zu idealen Forschungsobjekten, wenn man "Evolution in Aktion" sehen möchte.

Zu diesem Zweck rief ein Wissenschaftlerteam unter der Leitung des Evolutionsbiologen Richard LENSKI im Jahr 1988 das mittlerweile am längsten andauernde Evolutionsexperiment ins Leben. Studienobjekt war (und ist) das Darmbakterium Escherichia coli. Begonnen wurde mit einer einzigen Zelle, so dass alle Bakterien Nachfahren dieser einen Bakterienzelle sind. E. coli kann sich des Einfachzuckers Glucose als natürlicher Nahrungsquelle bedienen.

Zitronensäure macht den Unterschied

Im Gegensatz zur Glucose weiß der Wildtyp von E. coli nichts mit Citrat (Zitronensäure) als Kohlenstoffquelle anzufangen (der Phänotyp wird deshalb als Cit- bezeichnet). Zwar verstoffwechselt E. coli unter anaeroben Bedingungen, das heißt unter Ausschluss von Sauerstoff, gelegentlich auch Citrat. An Luft kann das Bakterium aus dieser Verbindung allerdings keine Energie gewinnen. Das Fehlen dieser Eigenschaft ist für E. coli derart spezifisch, dass es lange zur Unterscheidung von anderen Bakterienarten herangezogen wurde.

Um zu prüfen, ob die Bakterien in der Lage sind, unter dem Druck starker Ressourcenknappheit dieser Beschränkung zu entkommen, übertrugen LENSKIs Kollegen zwei Klone des Wildtyps in ein Nährmedium, das ein Minimalangebot an Glucose sowie ein Überangebot an nicht als Nahrungsquelle verwertbarem Citrat enthält. Einer der Klone wies zudem eine "Knock-Out-Mutation" namens Ara- auf, die den Abbau des Zuckers Arabinose ausschaltet. Aus beiden Klonen entnahmen die Wissenschaftler jeweils 6 Tochterzellen, die in frischem Nährmedium insgesamt 12 voneinander isolierte Starter-Kolonien bildeten.

Seit nunmehr 25 Jahren werden die Kolonien täglich aufgeteilt, wobei ein Teil der Bakterien in neue Gefäße mit frischem Nährmedium übertragen werden. Etwa alle 500 Generationen werden von den Populationen Bakterienproben entnommen und bei -80°C eingefroren. Auf diese Weise entstand ein einzigartiges Archiv von Ahnenformen – eine Datenbank, die alle wesentlichen Vorfahren der heutigen Bakterienstämme als "lebende Fossilien" konserviert. Die tiefgefrorenen Bakterien haben gegenüber stratigraphisch überlieferten Fossilien den entscheidenden Vorzug, dass sie jederzeit zum Leben erweckt und genetisch untersucht werden können.

LENSKI und Mitarbeiter ermittelten nun die Wachstumsrate in allen Bakterienpopulationen (relativ zur Ursprungspopulation). Bei konstanter Wachstumsrate dürfte sich der Stoffwechsel von E. coli kaum nennenswert verändert haben, wohingegen ein sprunghafter Anstieg der Vermehrungsrate Mutationen anzeigt, welche die Bakterien dazu befähigen, nicht nur die Glucose, sondern vor allem das im Überschuss vorhandene Citrat zu verstoffwechseln.

Das Auftreten der Cit+-Mutante

Nachdem über viele Jahre kaum oder nur wenige Veränderungen in der Wachstumsrate auftraten, erfolgte nach etwa 31.500 Generationen plötzlich der Durchbruch: Im Jahre 2008 berichteten LENSKI und Mitarbeiter, dass sich in einem der zwölf parallelen Abstammungslinien eine Population entwickelte, welche die Fähigkeit erworben hatte, Citrat als Kohlenstoffquelle zu verwenden (Phänotyp Cit+) (BLOUNT et al. 2008). Aktuell haben die Populationen bereits über 50.000 Generationen durchlaufen - und das Experiment dauert weiter an.

Über die Mutationsereignisse, auf welche die neue Fähigkeit von E. coli zurückzuführen ist, war 2008 noch wenig bekannt - bis auf die Tatsache, dass sich im Laufe der Generationen (mindestens) drei Evolutionsschritte ereignet haben müssen (siehe Abb. 1): Nachträgliche Genuntersuchungen aus dem Bakterienarchiv lassen den Schluss zu, dass sich etwa ab der 20.000. Generation eine "ermöglichende" Mutation ereignet hatte, die zunächst nicht adaptiv war, also isoliert betrachtet ihren Besitzern keinen Selektionsvorteil beschert.

Gleichwohl setzte sich die Mutation zufällig (durch genetische Drift) in einer der Bakterienpopulationen durch. Sie war die historische Voraussetzung dafür, dass bei den Tochterbakterien eine zweite, "verwirklichende" Mutation ansetzen konnte, welche die Neusortierung (das Rearrangement) von ganz bestimmten Genen ermöglichte. Eine entsprechende Mutation ereignete sich etwa in der 31.500. Generation und trat erstaunlicherweise in verschiedenen, voneinander isolierten Populationen unabhängig auf - freilich nur bei solchen, bei denen sich bereits die "ermöglichende Mutation" ereignet hatte.

Diese Mutante war allerdings nicht sehr effizient. Eine Nutzung als einzige Kohlenstoffquelle war nicht möglich, da die Citrat-Verwertung noch kein lebenserhaltendes Niveau erreichte. Erst das dritte Mutationsereignis gestattete es den Bakterien, die Citratverwertung bis auf ein lebenserhaltendes Niveau auszubauen, die Effizienz also zu verstärken.

Lenski und das Bakterium <i>E. coli</i>

Abb. 1 Entstehung eines neuen Phänotyps: Die ersten E. coli-Bakterien konnten Citrat noch nicht zur Energiegewinnung verwenden (Cit-). Etwa um die 20.000. Generation entwickelten einige Bakterien dann aber diese Fähigkeit (Cit+). Der ursprüngliche Klon hatte sich in verschiedene Linien aufgespalten, wie nachträgliche Genuntersuchungen belegen. Notwendig waren dafür drei Evolutionsschritte: Eine "ermöglichende" Mutation war die Voraussetzung dafür, dass an den Zellen die "verwirklichende" Mutation ansetzen konnte, die wiederum die Neusortierung (das Rearrangement) von ganz bestimmten Genen bzw. deren Verstärkung ermöglichte. Nach HENDRICKSON & RAINEY (2012).

Der molekulargenetische Hintergrund

Heute, vier Jahre nach dieser Entdeckung, erhellten genetische Untersuchungen das Wesen jener Mutationen, die der Cit+-Variante von E. coli zum Durchbruch verhalfen (BLOUNT et al. 2012). Zwar herrscht über die Natur des ersten (ermöglichenden) Mutationsereignisses noch Unklarheit. Es könnte sich dabei um eine relativ komplizierte Mutation gehandelt haben. Eine einfache Punktmutation kommt eher nicht in Betracht, da sich im Lauf der Zeit jede mögliche Punktmutation gleich mehrfach in jeder Population ereignet hatte.

Die beiden anderen Ereignisse jedoch, der "Verwirklichungs-" sowie der Verstärkungsschritt, konnten rekonstruiert werden und erwiesen sich als ziemlich komplex: Ihr Ursprung liegt in einer DNA-Region mit dem Gen citT, das für ein Transportprotein kodiert, welches Citrat in die Zelle schleust. Anfangs lag citT unterhalb des Genorts von citG (einem weiteren für die Citrat-Verwertung erforderlichen Gen) sowie von rnk, einem Gen mit einem ganz anderen Aufgabenbereich.

In allen Cit+-Mutanten fand ein spezifisches Neuarrangement dieser Gene statt, wonach citG mit rnk verschmolz. Die Gene fusionierten dabei so, dass das "Ablesen" der Gene citT und citG unter der Kontrolle der Promotorregion von rnk stattfand (Abb. 2). Diese Regulatorsequenz machte es möglich, dass beide Cit-Gene nicht nur unter anaeroben Bedingungen, sondern auch in Gegenwart von Luft (aerob) aktiv werden.

Genetisches Rearrangement bei <i>E. coli</i>

Abb. 2 a.) Räumliches und regulatorisches Arrangement des Genkomplexes (citG, citT, rna, rnk) in den ursprünglichen E. coli-Bakterien. b.) Nach einer "Tandem-Duplikation" liegt der Komplex zweimal hintereinander in der Bakterien-DNA. Der duplizierte Komplex wurde so ins Genom der Cit+-Mutante eingebaut, dass citG und rnk verschmolzen und sowohl citG als auch citT unter der Kontrolle des Regulators rnk exprimiert werden. Grafik aus BLOUNT et al. (2012).

Damit nicht genug: Eine einzige Kopie des umarrangierten Genkomplexes reicht nicht aus, den Cit+-Phänotypen hervorzubringen; hierzu mussten sich die Gene außerdem noch in Tandems von zwei bis neun Kopien aufstellen. Der Evolution ist es somit gelungen, in mehreren Schritten ein sehr geringes Cit+-Potenzial aufzubauen und dieses durch Genduplikation sukzessive auf ein lebenserhaltendes Niveau zu bringen. Und: Alle Zellen, die einmal die "Verwirklichungs"-Mutation geerbt haben (also die Verschmelzung von rnk und citG) und diese Gene dann durch Genduplikation verstärkt haben, zeigen schließlich den Cit+-Phänotypen.

Diskussion

Die in BLOUNT et al. (2012) dargestellten Ergebnisse sind ein klassisches Beispiel für "Gen-Tinkering" (Engl.: gene tinkering), das heißt genetischer Flickschusterei: Ordnet sich das im Genbestand vorhandene DNA-Material neu, kann dies zweckmäßige Neuerungen im Phänotyp hervorrufen. Im vorliegenden Fall entwickelte E. coli im Laufe von Jahrzehnten ein Merkmal, bestehend aus zwei spezifisch miteinander interagierenden Komponenten, welches eine neue Funktion (den Citrat-Transport in Gegenwart von Sauerstoff) aufweist. Bei diesen Komponenten handelt es sich um einen (anaeroben) Citrat-Transporter sowie um eine (aerobe) Promotorregion, die in passender Weise miteinander verschaltet wurden.

Es ist wichtig zu betonen, dass die neue Funktion des Promotors nichts mit der Funktion des Gens zu tun hat, die er ursprünglich exprimierte, und dass der Promotor nichts mit der Expression des Citrat-Transporters zu tun hatte. Beide Komponenten sind in anderen Funktionszusammenhängen evolviert.

Nur ein einfacher Anpassungsschritt?

Erwartungsgemäß spielen die Kreationisten die Tragweite des Evolutionsexperiments herunter (z. B. WORT UND WISSEN 2012). Sie behaupten, LENSKI habe lediglich die Regulations- oder Spezifikationsänderung eines Transportproteins nachgewiesen, keinesfalls sei in dieser Evolution etwas Neues entstanden. Dabei wird gänzlich die spezifische, nicht-reduzierbare Komplexität der Mutationsanforderungen für den neuen Phänotyp ignoriert:

Schritt 1: Es trat eine spezifische Mutation auf, welche die nachfolgenden Schritte ermöglichte.
Schritt 2: Eine Tandemduplikation bewirkte die Verdopplung des für die Verwertung des Citrats erforderlichen Genabschnitts.
Schritt 3: Original und Duplikat verschmolzen so miteinander, dass die Expression der Gene citG und citT unter die Regulatorkontrolle von rnk geriet.
Schritt 4: Der Genkomplex wurde einmal dupliziert, um ein lebenserhaltendes Niveau zu schaffen.

Erst nachdem sich diese vier voneinander unabhängigen Schritte vollzogen hatten, war eine effektive Citrat-Verwertung möglich und die Selektion konnte greifen. Die Innovation erforderte also scheinbar mehrere aufeinander "abgestimmte" (konzertierte) genetische Veränderungen, die hinreichend komplex und spezifisch waren. Die Cit+-Mutante ist, um es mit HENDRICKSON & RAINEY (2012) zu formulieren, ein Schlag ins Gesicht all jener, die es für unmöglich hielten, dass die Evolution in einer Serie komplexer Ereignisse, in Zehntausenden von Generationen, neue Merkmale hervorzubringen vermag.

LENSKIs Langzeitstudie offenbart noch etwas anderes: Wie schwierig genetische und phänotypische Veränderungen zu bewerkstelligen sind, hängt von der historischen Vorgeschichte und den Gegebenheiten der Genarchitektur ab. LENSKIs Experimente haben gezeigt, dass die Cit+-Mutante ohne eine bestimmte genetische Konstellation, die erst durch die "ermöglichende Mutation" geschaffen wird, nicht entstehen kann. Ist die Konstellation erst einmal vorhanden, entwickelt sich die Cit+-Mutante dagegen gleich mehrmals unabhängig (konvergent) in verschiedenen Bakterienstämmen.

Alles in allem belegt dieses Beispiel, dass Anpassungen, die das Ergebnis einer Serie hochspezifischer, für sich allein genommen selektionsneutraler Mutationen sind, für die Evolution keine grundsätzliche Hürde darstellen. (Für ein weiteres Beispiel siehe VENEMA 2012.)

Literatur

BLOUNT, Z. D.; BORLAND, C. Z. & LENSKI, R. E. (2008) Historical contingency and the evolution of a key innovation in an experimental population of Escherichia coli. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 105, 7899-7906.

BLOUNT, Z. D.; BARRICK, J. E.; DAVIDSON, C. J. & LENSKI, R. E. (2012) Genomic analysis of a key innovation in an experimental E. coli population. Nature 489, 513-518.

HENDRICKSON, H. & RAINEY, P. B. (2012) How the unicorn got its horn. Nature 489, 504-505.

VENEMA, D. (2012) The Evolutionary Origins of Irreducible Complexity.

WORT UND WISSEN (2012) Von der Citrat-Verwertung zur Entstehung des Auges?

Autor: Martin Neukamm

Copyright: AG Evolutionsbiologie